Bis zu ihrem Rettungstag im April 2017 war Pute Annas Leben geprägt von Stress, Enge und Misshandlung. Sie war ein namenloses, ausgebeutetes Wesen inmitten unzähliger anderer Leidensgenossinnen in einem Putenzuchtbetrieb.
Nur existent, um Eier für die Mastputenproduktion zu legen, bis sie nicht mehr effizient genug sein würde. Zwangsbesamt, geschunden, hoffnungslos. Annas Leben endete nach nicht nach anderthalb Jahren im Schlachthof. Für sie hieß es: Lebenshof statt Schlachthof!
Als Anna ins Land der Tiere einzog, war ihr Zustand schlecht. Fußprobleme, Verletzungen durch Zwangsbesamung und Stalltechnik, Bakterielle Infektion, Pilzbefall – die „normalen Probleme“, unter denen Puten aus Zuchtfabriken leiden. Da war sie nun: Anna mit ihrem furchtbar verstümmelten Schnabel. Anna, die schon nach ein paar Tagen in ihrem Quarantänezimmer versuchte, vorsichtig durchs Fenster nach draußen zu schauen, dahin, wo sie nie war.
Als Sie endlich loslaufen konnte, draußen sein, zusammen mit anderen Puten durch die Gegend streifen, Dinge entdecken, Wind und Sonne im Gefieder haben konnte, war alles gut für Anna. Sie genoss es einfach, jemand zu sein, der die Freiheit hat, sich durch eine frische Wiese zu grasen, Freundschaften zu pflegen und Pute zu sein.
Wir lernten von Anna im Lauf der Jahre unfassbar viel. Nicht nur, was Puten tun, wenn sie die Möglichkeit und Freiheiten haben, ihre Tage selbst zu gestalten. Wir lernten viel über Putensozialverhalten. Viel darüber, wie „schräg“ Puten sein können. Wie konsequent.
Annas Konsequenz, wenn es darum ging, ihr menschliches „Putzpersonal“ daran zu hindern, ihr Zimmer sauberzumachen. Oft bedeuteten ihre Bisse ins Arbeitsgerät nur, dass sie anderes von uns wollte. Gestreichelt werden zum Beispiel. Zumindest ließ Anna dann meist von aggressivem Verhalten gegenüber Schaufel und Besen ab: wenn sie stattdessen eng an „ihren“ Menschen gekuschelt – davon hatte sie viele – gestreichelt wurde. Allerdings konnte man sich darauf nie verlassen, dass sie es wirklich so meinte. Das gab dann blaue Flecke und Löcher in Armen und Beinen, Rückzug war dann angesagt. Fünf Minuten später konnte sie fröhlich und friedlich ankommen, sich zärtlich anschmiegen, so nah und vertraut, dass sie beim Kraulen einschlief.
Wir lernten auch von Anna, gute Nerven bei der Vergesellschaftung von Puten zu haben. Und große Handtücher und viel Zeit. Denn im Umgang mit anderen, fremden Puten war sie ähnlich ruppig wie sie mit Menschen sein konnte. Anna lehrte uns, dass weibliche Puten sich genauso aufblasen können wie männliche Puten, mit voll aufgeblasenen Luftsäcken, die Pofedern nach oben wie ein Pfau, rot im Gesicht, unter eindeutigem Kampfgeschnatter und mit viel „Pffft!“ ging sie erst einmal auf so ziemlich jede fremde Pute zu, egal ob Henne oder Hahn. Was die meisten nicht witzig fanden und entsprechend ebenso unfreundlich reagierten. Anna schaffte es sogar, zu Jodeln wie ein Puter.
Anna hatte im Laufe der Jahre viele verschiedene Puten um sich herum. Meist welche, deren noch schlimmer überzüchtete, schwere Körper so wenig fürs Leben gemacht waren, dass sie kein langes Leben haben konnten. Anna überlebte so viele, wurde älter und älter, unverhofft alt, lebte nach jedem kämpferischen Kennenlernen friedlich mit so vielen verschiedenen Puten zusammen, kuschelte sich nachts mit den anderen ins weiche Strohbett, Seite an Seite, ganz nah, ganz friedlich.
Anna starb Ende August 2022 im Alter von etwa sechseinhalb Jahren.
Adieu, Anna.