Liebevolle Erinnerungen

An dieser Stelle möchten wir unserer ehemaligen Mitbewohnerinnen und Mitbewohner gedenken. Danke, dass wir euch ein Stück eures Weges begleiten durften. Wir werden die Erinnerung an euch immer in unseren Herzen tragen.

Puter Georg im Land der Tiere, einem Lebenshof für ehemalige "Nutztiere" in Mecklenburg-Vorpommern, idyllisch gelegen im Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe zwischen Hamburg und Berlin

Abschied von 26780

In Trauer um jemanden, der wir vor einer Woche das erste Mal begegneten. Es blieb nicht einmal Zeit, ihr einen Namen zu geben.

Wir rechneten mit der Nachricht aus der Tierklinik, dass sie gestorben ist. Dabei hätte es doch der Beginn eines neuen Lebens werden sollten, aber es war zu spät für ihre Rettung. Ihr Zustand war so schlecht, dass wir sie, klapperdünn, dehydriert, kaum in der Lage zu stehen, vergangene Woche gleich nach ihrem Einzug ins Land der Tiere in die Tierklinik brachten. Wo alles versucht wurde, ihr Leben zu retten. Vergeblich.

Sie war jahrelang „Nutztier“, gefangen in einem Kreislauf von Vernachlässigung, Geburten, Krankheit. Der letzte Tierhändler, durch dessen Hände sie ging, brachte sie an einen grauenvollen Ort, an dem sie brutal geschlachtet werden sollte.
Immerhin das musste sie nicht erleben.

Am Ende bleiben Trauer – und Wut.

Und Hoffnung für die anderen. 26780 war nicht die Einzige, die wir von dem grauenvollen Ort holten.

Abschied von Emily

Die Spuren, die Emilys Körper beim Einzug ins Land der Tiere vor dreieinhalb Jahren trug, erzählten uns von dem, was vorher ihr Leben gewesen sein muss. Ein gutes Leben war es nicht: Ihre Fußballengeschwüre, ihr zerrupftes Gefieder, die „tierindustrietypischen“ Verletzungen am Rücken, ihre Traurigkeit und anfängliche Unfähigkeit, mit einfachen und eigentlich selbstverständlichen Dingen wie „Regen“ umzugehen, zeigte eindeutig, dass sie bislang ausschließlich im Stall gehalten wurde. Eine, die „Nutztier“ war – und es geschafft hatte, zu entkommen.

Emily legte Eier, viele Eier. Ihr Alter – für eine Mastpute war sie schon „viel zu alt“, denn diese werden geschlachtet, bevor sie annähernd erwachsen sind – sprach dafür, dass sie wahrscheinlich ein „Elterntier“ war.  Eine Mutter von Mastputenküken, die nie ihre Eier ausbrütete, nie die eigenen Kinder kennenlernte, künstlich von Menschenhand besamt wurde. Ihre Körperhaltung beim Auftauchen eines Menschen konnte Menschenherzen brechen. Wer nicht weiß, was Zuchtputen angetan wird, hätte es „putzig“ finden können. Für uns war es tieftraurig. Sie sah in uns „ihren Besamer“.

Wir sagten oft „alles gut, Emily, dein Besamer kommt nicht mehr“. Irgendwann vergaß Emily, was war. Sie schmiss sich nicht mehr vor uns hin, sondern kam freudig an, setzte sich neben uns. Auf uns. Genoss es unglaublich, gestreichelt zu werden. Wir führten viele vertrauliche Gespräche über wie wir uns das Leben vorstellen. Sie schlief dann oft einfach auf einem Menschenschoß ein, gluckerte süß träumend vor sich hin. Dazu gesellte sich dann häufig einer ihrer Vertrauten. Hahn Kasimir Wiesengrün zum Beispiel, der so lange ihr bester Freund war. Mit Emily das Bett teilte.

Emily hat in ihren Jahren bei uns viele Tiere kommen und gehen gesehen, Freundschaften geschlossen. Zu Puten, Hühnern und natürlich zu Familie Dr. Hasenbein. Oft lagen sie gemeinsam zum Mittagsschläfchen zusammen draußen, ganz nah beieinander. Bis vor einigen Wochen noch zusammen mit zwei weißen „Mast“-Hühnern, den Freundinnen von Emily. Als die beiden kurz hintereinander starben, trauerte Emily sehr. Emilys körperlicher Zustand – sie war schon lange Patientin aufgrund ihres für eine weiße große Pute sehr hohen Alters und ihrer Knochenprobleme – wurde noch schlechter.

Sie kämpfte schon seit längerer Zeit mit ihrem Körper. Einem Körper, 25 Kilo schwer, gezüchtet für die Fleischproduktion: für Putenbrust. Einem Gewicht fünfmal so hoch wie das einer Wildpute, einem unproportionierten Körper, wo das Gewicht so verteilt ist, dass ein Großteil des Körpergewichtes die Brustmuskulatur ist. So wie bei Emily, die genetisch so gebaut war, dass sie wegen dieses Muskels Übergewicht nach vorne hatte. Fehlstellungen des Skeletts in Folge. Einen Hüftschaden. Sie und wir lebten nun schon so lange mit dem Gedanken an den Tag, wo sie nicht mehr mobil sein würde. Nicht mehr laufen, am Ende nicht mehr aufstehen können würde.

Seit einiger Zeit schaffte Emily nur noch kurze Wege. Dass sie jemals wieder Spazierengehen würde, war ausgeschlossen. Ihr Körper ließ nur noch ein paar Schrittchen zu. Körner essen, Weintrauben naschen. In Emilys Weintrauben versteckten wir schon lange alle drei Stunden Schmerzmittel, damit sie ihre Schrittchen machen konnte. Körner suchen, Äpfel picken, Kuscheln konnte. Meist liebte sie es, hinterm Ohr gekrault zu werden. Und dabei Musik zu hören. Oder zu lauschen, wenn jemand ihr vorlas.

Im Winter holten wir sie ins Haus, damit sie bei offener Zimmertür immer in unserer Nähe sein konnte. Weihnachten lag sie dort. Hörte „Der Nüsse für Aschenbrödel“. Es sah so aus, als ob es ihr sehr gefallen würde. Drei Nüsse für Aschenbrödel, drei Äpfel für Emily. Und mit jedem Apfel rückte der Tag näher, an dem Emily nicht mehr aufstehen können würde.
Am Ende zeigten uns die Äpfel, dass es Zeit für den Abschied war. Emily mochte keinen Apfel mehr.

Adieu, Emily.

Abschied von Mrs. Bean

Mrs. Bean, für manche „Bohne“, andere „Böhnchen“ – oder auch „dicke Bohne“. Für ihr Dicksein konnte sie nichts, es war ihre „Mastgenetik“. Die Genetik, die sie Jahre ihres Lebens gekostet hat.

Mrs. Bean kam im März 2020 aus einem „Tiersammelhaushalt“ zu uns, als dort Dutzende Tiere aus Tierschutzgründen geräumt wurden. Ihre „Besitzerin“ führte einen angeblichen „Hundegnadenhof“, die Hunde lebten unter unfassbar schlechten Bedingungen. Auch viele Vögel hielt sie – darunter zwei Puten, für die bei der Räumung noch kein Platz gefunden war, wo sie unterkommen konnten. Mrs. Bean und ihre damalige Freundin Fräulein Schmittlauch zogen ins Land der Tiere ein.

Damalig, weil aus ihrer Freundschaft irgendwann Feindschaft wurde. Zuerst lebten sie zusammen als beste Freundinnen – und irgendwann verkrachten sie sich. Puten sind äußerst spezielle Wesen, vor allem die „menschenaffinen“ unter ihnen. Sie schaffen es, sich bis aufs Blut zu streiten: um die Gunst der von ihnen ausgewählten Lieblingsmenschen, manchmal ticken sie auch einfach durch, wenn eine jemand anderen anstänkert, das geht oft über in gegenseitiges Gestänkere.

Wir versuchten alle Tricks, um die beiden wieder zu vereinen und zu versöhnen. Ohne jeden Erfolg. Sie trennen zu müssen tat uns unglaublich leid, aber Beschädigungskämpfe unter Puten, noch dazu denen schwerer Rassen, können schnell ein übles bis tödliches Ende nehmen. Mrs. Bean zog zwei Zimmer weiter zu Pute Lotta und ihren Brüdern Kurti und Sputnik und den Hühnern. Alles harmonisch.

Nur mit Menschen blieb sie „wechselhaft“. Während sie von manchen Streicheleinheiten forderte und genoss, wurden andere vehement von ihr aus dem Garten verjagt. Lautstark und mit Bissen in die Beine. Je nach Tageslaune, Wetterlage oder was auch immer sie zu ihrem oft nicht vorhersehbaren Verhalten brachte. Viele unserer Sonntagsbesucher*innen haben sie kennengelernt, manche durften sie ausgiebig hinterm Ohr kraulen und ihr Gefieder streicheln, was sie sichtlich genoss. Bis sie jemanden erspähte, den sie nicht in ihrer Nähe dulden wollte. Geschnatter, Bisse. „Okay, Mrs. Bean möchte, dass wir schnell wieder gehen“. Dann gingen wir.

Ihren Körper im Verlauf der Zeit zu sehen, war traurig. Zu groß, zu schwer, zu fehlproportioniert. Mit zunehmendem Brustmuskelwachstum, auf das Puten wie sie eben gezüchtet sind, weil es genau „das Teilstück“ ist, was den Profit im Fleischgeschäft bringt, wurde ihr Körper untauglicher für sie. Die Körperhaltung beeinflusst durch diesen schweren Muskel, der aufrechtes Gehen zu erschweren begann. Ihre Beinstellung veränderte sich. Vogelbeine sind natürlicherweise so angeordnet, dass sie sich grade und mittig und nah beieinander unter dem Vogel befinden. Mrs. Beans Beine gingen immer mehr auseinander. Man hätte fast einen Fußball zwischendurch schießen können.

Was das mit Knochen, Gelenken und Hüfte macht, wissen wir längst. Und jede Veränderung der Körper- und Beinhaltung einer Pute zeigt uns, dass der Zähler für ihre Lebenszeit unaufhörlich tickt. Schnell tickt. Bereits im vergangenen Sommer zeichnete sich ab, dass es ihr letzter Sommer sein würde. Ein Sommer, in dem sie es genoss, mit den anderen draußen zu sein, herumzulaufen, Gräser zu picken, in Sand und Sonne zu baden, sich den Wind um die Federn wehen zu lassen, ein Mittagsschläfchen mit ihrer Freundin Lotta unterm Gartentisch abzuhalten.

Am Ende ging alles ganz schnell. Das Gewicht ihres Brustmuskels zog sie um. Von einem Tag auf den anderen konnte sie nicht mehr aufstehen. Die immer so eigenwillig und stark gewesene Mrs. Bean kapitulierte vor der Tatsache, ihre Selbstbestimmtheit verloren zu haben.

Mrs. Bean mit all ihren Liebenswürdigkeiten, Bissigkeiten und jeder Menge Lust, zu leben, gehörte drei Jahre zur Land der Tiere-Familie. Sie wurde im Februar 2023 im Alter von etwa vier bis fünf Jahren eingeschläfert.

Adieu, Mrs. Bean.

Abschied von Mupf

Als Mupf ins noch ganz neue Land der Tiere einzog, gab es hier nur zwei Schafe außer ihr. Zwei alte Herren, die wir lange kannten, bevor das Land der Tiere existierte – und ein Versprechen, dass es ihre Heimat für den Rest des Lebens sein würde. Mupf kam zur richtigen Zeit für die alten Herren. Die beiden hatten grade ihre geliebte Freundin und Vertraute verloren, ein kleines altes Schäfchen, welches den Herren immer jede Entscheidung abgenommen hatte. Die alten Herren waren tieftraurig und orientierungslos nach ihrem Tod.

Und dann kam Mupf. Verwahrlost, verdreckt, verfilzt und einsam und verlassen stand Mupf, Schafdame fortgeschrittenen Alters, zuvor auf einem Grundstück, wo nichts Essbares mehr wuchs – ein vergessenes Schaf, wo sich nicht einmal mehr jemand um die verlässliche Versorgung mit Wasser kümmerte. Es gelang ihrem Retter, sie dem Besitzer „abzuschwatzen“. Und den Ort zu finden, wo sie zusammen mit anderen Schafen in Ruhe alt werden kann: Das Land der Tiere. Im Sommer 2015 zog sie ein.

Mupf schloss sofort Freundschaft mit den beiden alten Schafherren, denen sie eine extrem treue Gefährtin wurde, die gutgelaunt jedes Problem der alten Orientierungslosen löste, ihnen Sicherheit gab, wie auch immer sie das machte. Sie wurde auch unsere Vertraute und Freundin. Es dauerte nicht lange, bis zu unseren Tagen gehörte, ihr samtiges Sommersprossengesicht zu streicheln. Es wird eines der Dinge bleiben, die wir nie vergessen werden: das Gefühl ihres Samtsommersprossengesichtes an den Fingern.

Vielleicht erinnert auch Kater Klaus das Gefühl, das von Sicherheit in ihrer Nähe, das des Samtgesichtes, an dem er so oft seinen eigenen Kopf anschmiegte. Als Klaus unfreiwillig im Land der Tiere strandete, hatte er keinerlei Vertrauen zu Menschen. Wir fanden ihn dann bei den Schafen, mit denen er das Bett teilte. Nicht nur das: er zog zusammen, Seite an Seite, mit Mupf und den alten Herren herum. Wahrscheinlich hat er was uns betraf einfach eine Weile geschaut: Die Schafe und die Menschen – ist es okay zwischen ihnen? Was sagt Mupf?

Vielleicht war sie so eine Art Sozialarbeiterin unter den Schafen. Nicht nur Klaus konnte sie erklären, dass alles gut ist. Über 30 Schafe zogen während Mupfs Zeit im Land ein. Vor allem am Anfang war sie immer diejenige, die „vermittelte“, die Neuen und die Alten zusammenbrachte und verband. Wenn Mupf „Hummeln im Po“ hatte und eigentlich an den „Spaßrennen“ der jüngeren Schafe teilnehmen wollte, überlegt sie oftmals, ob sie wirklich dafür die alten Herren verlassen soll. Sie tat es, hüpfte, wie Schafe in größtem Vergnügen hüpfen können – und war kurz darauf wieder bei ihnen.

In den letzten Monaten alterte Mupf zusehends. Vieles fiel ihr schwerer. Die alten Knochen und ein schweres Herzproblem dämpften ihre Energie. Trotzdem ließ sie es sich nicht nehmen, da zu sein, wo sie sein wollte: zwischen den anderen Schafen. Sie zog zusammen mit ihnen herum, obwohl ihr die Wege Probleme bereiteten. Mit ein paar anderen alten oder kranken Schafen beim Stall zu bleiben und abzuwarten war für sie keine echte Option. Sie wusste ja eh selbst am besten, was gut für sie ist. Wenn sie mitwollte und konnte, sollte sie.

Der Tag, an dem sie nicht mehr können würde, rückte näher und näher. Mupf brauchte immer häufiger Aufstehhilfe. Als wir dachten, der Tag sei da, wo sie es nie wieder aus dem Stall schaffen würde, belehrte Mupf uns eines Besseren. Sie zog mit den anderen los, wirkte dabei bei aller Gebrechlichkeit zufrieden.

Es war ihr allerletzter Ausflug, ihre Abschiedsrunde.

Adieu, Mupf.

Abschied von Graunasenpunkt Ostermann

Als wir Ostern 2021 seine Mutter einfingen, die von ihrem „Besitzer“ beim Wegzug auf einem vermüllten Grundstück zurückgelassen worden war, wussten wir noch nichts von seiner Existenz. Drei Wochen später baute Frau Ostermann dann ein Nest. Sieben kleine Osterkinder kuschelten und brummten in dem Nest herum.

Er und seine sechs Geschwister hätten sich wahrscheinlich keinen besseren Ort aussuchen können, als den, wo sie geboren wurden. Aus den kleinen brummenden Kaninchenkindern wurden neugierige Flummis, die aus dem Nest hüpften und mit viel Elan in ihr Leben starteten. Gut behütet von Frau und Herr Ostermann – und uns. Als wir die Osterkinder das erste Mal „ganz rausließen“ in den Garten, außerhalb des sicheren Geheges, halfen wir ihren Eltern beim Aufpassen. Damit bloß keine „Naturgefahr“ den Kids schaden würde. Katzen zum Beispiel.

Alle sieben wurden groß. Auch groß war von Anfang an der Kuschelhaufen, den Familie Ostermann baute, wenn alle zur Mittagsruhe irgendwo unter den Bäumen neben- und übereinanderlagen und von ihm oft nur die Nase mit dem grauen Punkt herausschaute. Ansonsten war er schneeweiß, bis auf die Ohren und zwei Punkte auf dem Rücken. Nicht unüblich bei einem Sohn von gescheckten Eltern. Leider auch nicht ungefährlich.

Fast zwei Jahre lang war alles gut, wir kamen um alle durch die Genetik eventuell vorliegenden Probleme drumherum. Eines der möglichen Probleme: Eine Dickdarmerweiterung, einhergehend mit Verstopfung, schlimmstenfalls Darmlähmung. Wir waren sozusagen immer vorgewarnt, tägliche Kontrollen und angepasste Ernährung sind bei solch gefährdeten Tieren selbstverständlich. Als es bei Graunasenpunkt Ostermann anfing, waren wir erst noch guter Hoffnung, „nur“ ein Blasenproblem zu haben, ihm helfen zu können. Eine Woche mit täglichen Tierarztbesuchen folte. Es ging im sichtbar schlecht, er gab nicht auf, wir auch nicht.

Eine Chance hatten wir am Ende nicht. Er starb mit Darmlähmung.

Adieu, Graunasenpunkt Ostermann.

Abschied von Maria

Manche tödliche Gefahr ist winzig klein und kommt als Bakterium. Manchmal versagt einfach ein Herz. Und manchmal kommt die Gefahr auf Flügeln.

Maria… sie wurde wahrscheinlich Opfer eines Greifvogels. Es gab keine Spuren, die darauf hindeuteten, dass sie durchs Gelände gejagt wurde. Dass sie versucht hat, zu flüchten. Sie muss völlig unvorbereitet gestorben sein, vielleicht tief beschäftigt damit, das Laub unter dem Baum, wo wir sie fanden, auf der Suche nach Schätzen umzugraben. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob sie vielleicht sogar dort eines anderen, körperlichen Todes starb und im Nachhinein „Beute“ wurde, oder ob ein Greifvogel sie dort erwischte und sofort tötete.

Maria war schon länger anders als die anderen, jedoch ohne dabei „diagnostizierbar krank“ zu sein. Trieb sich oft alleine draußen herum, brauchte immer eine Extraeinladung, abends ins Haus zu kommen, wenn die anderen schon längst ungeduldig auf ihr Abendessen warteten. Ob es am Ende ihre spezielle Art, doch eine Erkrankung oder einfach das Unglück war, zur falschen Zeit am falschen Ort draußen gewesen zu sein, werden wir nie erfahren.

Anderthalb Jahre lebte sie nun zusammen mit anderen geretteten Hühnern im Land der Tiere. Bevor wir sie kennenlernten, war sie eine Henne, die niemals im Leben Sonne sah, lebte zusammen mit vielen Tausend anderen Hühnern in einem „Bodenhaltungsbetrieb“. Als sie „zur Produktion von Bruteiern nicht mehr gut genug“ war, konnten Tierschützer*innen sie vor der Schlachtung retten. Dass sie immerhin noch anderthalb Jahre Huhn sein konnte, mit der Möglichkeit, im Laub unter Bäumen nach Schätzen zu suchen, war ihr großes Glück – und am Ende vielleicht auch Verhängnis. Wir sind uns sicher, sie hätte ihre gewonnene Freiheit, die sie in vollen Zügen genoss, niemals eintauschen wollen gegen ein Hühnerleben wie das, was sie vor ihrer Rettung führte. Auch nicht gegen einen goldenen Käfig, der ihr die Bäume und das Laub darunter und ihre Selbstbestimmtheit genommen hätte.

Das Foto entstand kurz nach ihrer Rettung, als sie ihre persönliche Welteroberung startete.

Adieu, Maria.

Abschied von den Damen Wiesengrün

Wir wurden ein bisschen die Mütter, die sie nie hatten.

Sechs flauschige, winzige, piepsende, Vögelchen, die eigentlich unter den schützenden Flügel ihrer echten Mütter gehört hätten. Die hatten sie jedoch nie – also nie kennengelernt. Stattdessen saßen sie in dieser Mastanlage, um möglichst schnell dick zu werden. Todgeweihte Babys.

Denn eigentlich wurden sie „als Masthühner produziert“. Ihr Leben begann im Februar 2020 im Brutschrank einer Brüterei. 700 Millionen Küken werden so pro Jahr in Deutschland ausgebrütet und nach dem Schlüpfen in riesengroße Mastanlagen mit durchschnittlich 41.000 Hühnerküken „eingestallt“ und gemästet. Als Masthühner wären sie nach 29-42 Tagen Existenz geschlachtet worden – also noch als Babys. Masthühner wiegen dann bereits bis zu zweieinhalb Kilo, falls sie die Mast und ihr immenses Wachstum überhaupt überlebt haben.

Greta, Giesela und die anderen vier Wiesengrüns waren gerade ein paar Tage alt, als wir sie kennenlernten. Zufällig ausgewählte Wesen aus einer unfassbaren Masse tausender laut piepsender, ängstlicher Küken. Sechs aus 41.000, die das unwahrscheinliche Glück, nach ein paar Tagen die Mastanlage verlassen zu können – um das zu erleben, was für Tiere wie sie nicht vorgesehen ist: einfach ein echtes, glückliches Hühnerleben bis ans natürliche Ende ihrer Tage zu haben. Durch grüne Wiesen laufen, in der Sonne liegen, Sandbäder nehmen, herumscharren, entdecken können, Freundschaften zu schließen, erwachsen zu werden.

Wir wurden ein bisschen die Mütter, die sie nie hatten. Schon als Winzlinge mochten sie es, auf unseren Beinen und Schultern herumzusitzen. Kamen auf Zuruf. Genossen Streicheleinheiten. Waren neugierig, voller Vertrauen, Tatendrang und Lust, zu leben. Wir freuten uns über jeden Quatsch, den sie machten, über alles, was sie lernten, was sie genossen und waren glücklich, ihnen beim Erwachsenwerden zuschauen zu dürfen. Waren überglücklich, dass keines der Küken früh an den Folgen der „Mastgenetik“ starb.

Aus den winzigen Küken wurden zwei Mädels und vier Jungs. Mit dem Erwachsenwerden zogen aufgrund von „Jungsstreitigkeiten“ drei der vier Wiesengrünherren zu Pute Emily und Familie Dr. Hasenbein um. Die Mädels blieben mit ihrem „Lieblingshahn“ zusammen. Leider auch nicht für immer, weil er mit zunehmendem Alter und Wachstum so schwer wurde, dass seine „Liebesdienste“ an den Damen nicht mehr verletzungsfrei blieben. Nach einem weiteren Umzug, weiteren Hahnenstreitigkeiten, die damit endeten, dass wir alle Hähne voneinander trennen mussten, landeten dann letztendlich die Damen Wiesengrün bei Emily und Hasenbeins.

Es sollte ihr letzter Umzug werden. Lange lebte die gemischte Gruppe fröhlich und friedlich zusammen in der Alten Wache. Aßen Klee um die Wette, teilten ihre Äpfel und Möhren, gingen viel spazieren. Untereinander waren Greta & Giesela immer das, was man „ein Herz und eine Seele“ nennt und immer zusammen unterwegs. Und dann erwischte es Giesela, einfach so beim Spazierengehen. Völlig unvorbereitet, ohne Vorwarnung durch Krankheit, starb Giesela. „Eines natürlichen Todes“, könnte man sagen, sofern es für ein Huhn „natürlich“ wäre, nicht einmal drei Jahre alt zu werden.

Für Hühner wie die Wiesengrüns, auf maximale „Mastleistung“ gezüchtet, sind knappe drei Jahre Lebenserwartung jedoch sehr viel mehr, als wir bei ihrem Einzug zu hoffen gewagt hatten. Die meisten dieser Hühner sterben viel früher. Ihre Knochen versagen – und wenn nicht die, dann ihr Herz-Kreislaufsystem. Plötzliche Todesfälle wie z.B. durch geplatzte Schlagadern sind leider bei solchen „Mast“-Hühnern „normal“.
Greta trauerte. Sie ohne Giesela, irgendwie ging es überhaupt nicht. Nach ein paar Tagen waren wir so froh, dass sie endlich wieder unternehmungslustig wurde, sich mit Hasenbeins herumtrieb, spazieren ging, herumscharrte. So wie an diesem Mittag, ganz fleißig, auf der Suche nach was auch immer ein Huhn sucht im Boden. Nachmittags ging Greta dann Richtung Wache, Richtung Abendessen und Bett. Sie fiel einfach an der Hausecke um und starb, bevor sie ihr Ziel erreichte.

Zwei, die „genetisch gleich“ waren. Zwei beste Freundinnen. Auch unsere.

Adieu, Mädels.