Ihr Leben war fast vorbei, als wir sie vor sechs Jahren aus dem Straßengraben holten. Ein altes, krankes Katzentier, nicht in der Lage, zwei Meter geradeaus zu laufen, ohne umzufallen. Ihre prognostizierte Restlebenserwartung von Tagen oder Wochen verschaffte ihr ihren Platz im Land der Tiere. Sie bekam keinen echten Namen, sondern den, der zu ihr passte: Kugel. Auch Kugelkatze genannt. Kugel schiss auf die Scheißprognose, was ihr Leben anbelangte. Und machte sechs Jahre draus.
2017 trafen wir sie zum ersten Mal. In einem Straßengraben. Das war ihr Zuhause. Die kleine, alte Dame war in ständiger Lebensgefahr, aber die ersten unserer Begegnungen lehnte sie ab und lief fort. Irgendwann kam der Tag, an dem sie Vertrauen fasste. Aufgrund ihres Zustands dachten wir, dass sie wahrscheinlich nur noch ein paar Wochen zu leben hat. Deshalb brachten wir sie nicht ins zuständige Tierheim. Die Katze kam mit ins Land der Tiere – mit ständig gefüllten Näpfen, vielen Kuschel- und Spieleinheiten, einem Dach über dem Kopf und einer warmen Heizung.
Die betagte Dame war in einem desolaten Zustand, wirkte aufgebläht, ihre Hüfte und alles war irgendwie ein schief. Trotz allem kugelte sie sich sofort durch die Räume, so, als sei sie dort schon immer gewesen. Schnuppern und vorsichtig alles entdecken musste sie nicht. Ihr war sofort klar: das hier ist meins! Sie war gekommen, um zu bleiben. Die Menschen kannten schnell ihren Namen: die Kugelkatze.
Die Kugel wohnte seitdem in der Bufdi-WG. Sie sah viele Menschen ein- und nach einem Jahr wieder ausziehen. Immer schaute sie gespannt zu, wer als Nächstes kam und wie die Person wohl IHR Zuhause umgestalten würde. Nach Lust und Laune schlich sie von Tür zu Tür und blieb da, wo sie sein wollte. Nicht nur die WG wurde in Beschlag genommen, sondern auch die Wohnung nebenan oder das Büro. Jeder empfing die Kugel mit offenen Armen und machte entzückte Geräusche bei Blickkontakt. Kater Klaus versuchte auch so oft, ihre Freundschaft zu gewinnen. Diese blieb ihm jedoch verwehrt. Und die Hunde fanden die Kullerkugel ziemlich seltsam. Sie bellten sie aus, stürmten auf sie zu. Manchmal lief Kugel nicht weg, sondern setzte ihren stechenden Blick auf, den nur die Grumpy Cat so draufhatte.
Sie machte sich ihr Leben schön, verschlief schlechtes Wetter auf der Fensterbank, verschlief oft auch gutes Wetter auf der Fensterbank. Sie wählte trotz offener Wohnungen gerne die entschleunigte Variante. Kugels Spaziergangsradius war nicht groß. Doch vor ein paar Monaten schien es, als wüsste sie, dass sie los muss, wenn sie noch was erleben will. Plötzlich war die kleine Kugel überall anzutreffen. Sie lag bei den Schweinen auf der Lauer, trank bei den Ziegen aus dem Wassereimer oder inspizierte die Fortschritte sämtlicher Baustellen. Mensch dachte zeitweise schon, es gäbe sie mehrfach, weil sie überall gleichzeitig herumzukugeln schien.
Doch dabei blieb es nicht. Im Juli machten sich die die Menschen große Sorgen. Kugel wurde dünner und schwach. Ihre Leberwerte waren jenseits von Allem. Diagnostisch fand man nichts – Altersschwäche. Kugel sollte über 20 Jahre alt sein. Von Tag zu Tag schwand sie mehr und mehr und konnte in den schlechtesten Zeiten nur drei Schritte gehen – aber Kugel ging sie und richtete sich auf, wenn sie wieder kippte. Medikamente und andere Behandlungen ertrug sie, um danach wieder bekuschelt zu werden.
Kugelkatze, die mit den grimmigsten Blicken, die mit den penetrantesten Bettelmauzen, die mit dem süßesten Kugelbauch, die mit dem beruhigendsten Schnurren, die mit dem riesigen Kampfgeist, ist nicht mehr da.
Abends lag sie in ihrer WG beim Filmabend auf ihren Menschen in der ersten Reihe, wählte sich zur Nacht ihr Menschenbett aus, schlief ein, stand morgens auf und frühstückte. Danach legte sie sich in ihr Lieblingskörbchen und kugelte sich ein. So fanden wir sie kurze Zeit später. Ganz friedlich lag sie da und verschlief das Wetter draußen – dieses Mal jedoch für immer.
Adieu, Kugel.