Die Spuren, die Emilys Körper beim Einzug ins Land der Tiere vor dreieinhalb Jahren trug, erzählten uns von dem, was vorher ihr Leben gewesen sein muss. Ein gutes Leben war es nicht: Ihre Fußballengeschwüre, ihr zerrupftes Gefieder, die „tierindustrietypischen“ Verletzungen am Rücken, ihre Traurigkeit und anfängliche Unfähigkeit, mit einfachen und eigentlich selbstverständlichen Dingen wie „Regen“ umzugehen, zeigte eindeutig, dass sie bislang ausschließlich im Stall gehalten wurde. Eine, die „Nutztier“ war – und es geschafft hatte, zu entkommen.
Emily legte Eier, viele Eier. Ihr Alter – für eine Mastpute war sie schon „viel zu alt“, denn diese werden geschlachtet, bevor sie annähernd erwachsen sind – sprach dafür, dass sie wahrscheinlich ein „Elterntier“ war. Eine Mutter von Mastputenküken, die nie ihre Eier ausbrütete, nie die eigenen Kinder kennenlernte, künstlich von Menschenhand besamt wurde. Ihre Körperhaltung beim Auftauchen eines Menschen konnte Menschenherzen brechen. Wer nicht weiß, was Zuchtputen angetan wird, hätte es „putzig“ finden können. Für uns war es tieftraurig. Sie sah in uns „ihren Besamer“.
Wir sagten oft „alles gut, Emily, dein Besamer kommt nicht mehr“. Irgendwann vergaß Emily, was war. Sie schmiss sich nicht mehr vor uns hin, sondern kam freudig an, setzte sich neben uns. Auf uns. Genoss es unglaublich, gestreichelt zu werden. Wir führten viele vertrauliche Gespräche über wie wir uns das Leben vorstellen. Sie schlief dann oft einfach auf einem Menschenschoß ein, gluckerte süß träumend vor sich hin. Dazu gesellte sich dann häufig einer ihrer Vertrauten. Hahn Kasimir Wiesengrün zum Beispiel, der so lange ihr bester Freund war. Mit Emily das Bett teilte.
Emily hat in ihren Jahren bei uns viele Tiere kommen und gehen gesehen, Freundschaften geschlossen. Zu Puten, Hühnern und natürlich zu Familie Dr. Hasenbein. Oft lagen sie gemeinsam zum Mittagsschläfchen zusammen draußen, ganz nah beieinander. Bis vor einigen Wochen noch zusammen mit zwei weißen „Mast“-Hühnern, den Freundinnen von Emily. Als die beiden kurz hintereinander starben, trauerte Emily sehr. Emilys körperlicher Zustand – sie war schon lange Patientin aufgrund ihres für eine weiße große Pute sehr hohen Alters und ihrer Knochenprobleme – wurde noch schlechter.
Sie kämpfte schon seit längerer Zeit mit ihrem Körper. Einem Körper, 25 Kilo schwer, gezüchtet für die Fleischproduktion: für Putenbrust. Einem Gewicht fünfmal so hoch wie das einer Wildpute, einem unproportionierten Körper, wo das Gewicht so verteilt ist, dass ein Großteil des Körpergewichtes die Brustmuskulatur ist. So wie bei Emily, die genetisch so gebaut war, dass sie wegen dieses Muskels Übergewicht nach vorne hatte. Fehlstellungen des Skeletts in Folge. Einen Hüftschaden. Sie und wir lebten nun schon so lange mit dem Gedanken an den Tag, wo sie nicht mehr mobil sein würde. Nicht mehr laufen, am Ende nicht mehr aufstehen können würde.
Seit einiger Zeit schaffte Emily nur noch kurze Wege. Dass sie jemals wieder Spazierengehen würde, war ausgeschlossen. Ihr Körper ließ nur noch ein paar Schrittchen zu. Körner essen, Weintrauben naschen. In Emilys Weintrauben versteckten wir schon lange alle drei Stunden Schmerzmittel, damit sie ihre Schrittchen machen konnte. Körner suchen, Äpfel picken, Kuscheln konnte. Meist liebte sie es, hinterm Ohr gekrault zu werden. Und dabei Musik zu hören. Oder zu lauschen, wenn jemand ihr vorlas.
Im Winter holten wir sie ins Haus, damit sie bei offener Zimmertür immer in unserer Nähe sein konnte. Weihnachten lag sie dort. Hörte „Der Nüsse für Aschenbrödel“. Es sah so aus, als ob es ihr sehr gefallen würde. Drei Nüsse für Aschenbrödel, drei Äpfel für Emily. Und mit jedem Apfel rückte der Tag näher, an dem Emily nicht mehr aufstehen können würde.
Am Ende zeigten uns die Äpfel, dass es Zeit für den Abschied war. Emily mochte keinen Apfel mehr.
Adieu, Emily.