Fräulein Schmittlauch kam vor fast vier Jahren aus einer Räumung bei einer „Tiersammlerin“ zu uns. Es war ein furchtbarer Animal Hoarding-Fall in Niedersachsen. Neben über 70 Hunden in schlimmsten Zuständen lebten in der angeblichen Tierpension, die sich auch „Hundegnadenhof“ nannte, auch viele Vögel, Gänse, Enten, Hühner – und zwei Puten. Als der Hof komplett geräumt wurde, halfen wir wie viele andere auch durch die Aufnahme von Tieren: ins Land der Tiere zogen die beiden Puten.
Als wir Fräulein Schmittlauch und ihre Freundin Mrs. Bean abholten, konnte man nicht einmal sicher sein, welche Farbe die beiden haben. Beige? Grau? Mit schwarzen Köpfen und dunklen Flecken? Sie waren komplett verdreckt, ihr Gefieder in genauso desolatem Zustand wie ihre Psyche. Sie waren voller Angst.
Es dauerte eine Zeit, aber es passierte: es stellte sich nicht nur heraus, dass es weiße „Mast“-Puten sind, sondern auch, dass sie sind, wie Puten eben sind: absolut neugierig, frech und klug, sehr interessiert an menschlicher Nähe, anhänglich und verschmust, jede mit ganz eigenem Charakter, mal gut gelaunt, mal nicht – und dann „von Null auf 180“ in ein paar Sekunden. Das tat dann Menschen, die nicht schnell genug ein Einsehen hatten und sich gepflegt zurückzogen, auch schon mal tüchtig weh.
Tüchtig weh tat auch irgendwann der Streit, den die Mädels miteinander anfingen. Warum es passierte, fanden wir nie heraus. Trotz aller Geduld und aller bewachten Versuche, die beiden wieder miteinander zu versöhnen: sie wollten nicht mehr zusammenleben, hatten sich nachhaltig verkracht. Während Mrs. Bean in der gemischten Hühner-Puten-Gruppe mit Lotta und den anderen ihr Glück fand und bis zu ihrem Tod im Frühjahr 2023 behielt, zog „Schmitti“ zu Puter Gustav und „seinen Leuten“.
Gustav musste von da an damit leben, dass nicht nur er, sondern auch Fräulein Schmittlauch beim Anblick von Menschen, die nicht in der Nähe sein sollten, manchmal schier explodierte: ganz nach Truthahnmanier mit viel Aufblasen, vielen „Pfffts“ und Gejodel. Das können tatsächlich nur sehr wenige weibliche Puten. Schmittlauch konnte es. Wenn die ganze Show nicht reichte, verfolgte sie die Leute mit zornigstem Geschnatter und Bissen in die Beine, bis zu deren Kapitulation.
Bei den Menschen, die in ihrer Nähe sein durften und sollten, gab es eine ganz andere Fräulein Schmittlauch. Die Sanfte, die sich hinlegte, die Augen schloss, gestreichelt werden wollte. Glücklich gluckste bei Kuscheleinheiten. Während sie gluckste dachten wir oft an den Tag, der irgendwann kommen würde. Fräulein Schmittlauchs Körpergewicht war eine Katastrophe, trotz strenger Diät. Knochenprobleme bei den überschwer gezüchteten „Mastputen“, die früher oder später fast immer auftreten, sind „normal“.
Bei ihr fingen die Probleme erstaunlich spät an. Vor einigen Monaten dachten wir schon, „jetzt ist es vorbei“, als sie anfing, beschwerlich zu laufen. Doch nach drei Wochen entzündungshemmenden Schmerzmitteln war „alles wieder gut“ – und Schmittlauch wieder in der Lage, die anderen beim Weg zum Frühstück nach draußen zu überholen oder wahlweise über den Haufen zu rennen. Menschen aus ihrem Garten zu jagen, die sie dort nicht haben wollte. Vor einigen Tagen dann fing sie an zu humpeln und auch mit Medikamenten besserte sich nichts.
Und dann lag sie. Konnte nicht mehr stehen. Ihre Hüfte ließ es nicht mehr zu, zu sein, wer sie immer war: die taffe Fräulein Schmittlauch. Gestern wurde ihr und uns klar, dass es nie wieder werden würde, wie es war. Alles, was noch zu erwarten war, wären Schmerzen und Frustration gewesen.
Schmitti starb nach dem größten Frühstück ihres Lebens friedlich in der Tierarztpraxis.
Adieu, Fräulen Schmittlauch.