Wenn einer erklären konnte, warum es nicht okay ist, Hühner zu essen, dann er.
Fast zwei Jahre lang hat er gekuschelt, gefragt, geliebt, connected. Seine Geschichte erzählt.
Als wir Herr Boris Wiesengrün im Februar 2020 kennenlernten, war er ein winziges Küken. Ein zufällig Ausgewählter aus einer piepsenden Masse Tausender kleiner Vögel, befreit zusammen mit fünf weiteren Küken aus einer Hühnermastanlage. Sechs Küken, die gezüchtet wurden, um kein Leben zu haben. Sechs kleine, hilflose Vögel, die eigentlich unter den schützenden Flügel der Mutter gehört hätten. Unsicher und suchend piepsend, suchend nach Mama, Wärme, Sicherheit. Mit ihrem Einzug ins Land der Tiere wurden wir „Ersatzmamas“, die mit Küken kuschelten.
Sie genossen es, auf und neben uns zu sitzen. Kuscheln, dösen, angeflitzt kommen, wenn die „Ersatzmamas“ in Sicht waren. Als Masthühner wären sie nach 29-42 Tagen Existenz geschlachtet worden – also noch als Babys. Masthühner wiegen dann bereits bis zu zweieinhalb Kilo, falls sie die Mast und ihr immenses Wachstum überhaupt überlebt haben. Auch die Wiesengrüns wuchsen immens. Klar war, dass sie sicherlich in ihrem Leben Probleme bekommen würden aufgrund ihrer auf Turbowachstum gezüchteten Körper. Während sie wuchsen, hörten sie nicht auf es zu genießen, auf ihren „Ersatzmamas“ herumzusitzen. Gestreichelt zu werden.
An dem Tag, wo wir sie retten und sie ins Land der Tiere einziehen, an jedem Tag, an dem wir sie streicheln steht fest, dass irgendwann der Tag kommt, an dem wir sie beerdigen müssen. Wann? Ob nach viel Zeit, fortschreitendem Alterungsprozess, oder nach langer oder plötzlicher Krankheit – oder einfach „aus heiterem Himmel“, ohne jede Vorwarnung. So wie bei Herr Boris Wiesengrün. Er lief los in freudiger Erwartung eines Apfels zum Mittagessen, wie jeden Tag. Fiel einfach um, starb innerhalb von Sekunden. Letzte, gestreichelte Sekunden.
Plötzliche Todesfälle sind bei den auf maximale „Fleischmasse“ gezüchteten Hühnern und Hähnen keine Seltenheit. Akutes Herz-Kreislaufversagen, geplatzte Arterien, Luftsäcke und Organe und viele andere tödliche Probleme sind „Normalität“ bei diesen Tieren. An der Tagesordnung in den Mastanlagen, obwohl die Hühner dort noch Küken sind. Boris und die anderen Wiesengrüns konnten dieser „Normalität“ entkommen – und tatsächlich hätten wir nie zu hoffen gewagt, dass es ihnen so lange so gut geht. Dass ausgerechnet Herr Boris Wiesengrün, der Sanfte mit dem augenscheinlich „lebenstauglichstem Körperbau“, nun der Erste ist, dessen Leben nach einer wundervollen Zeit vorbei ist, war unvorhersehbar. Es ist gut, nicht zu wissen, wann es so weit sein wird, sondern sich auf die gestreichelte Zeit dazwischen konzentrieren zu können – und sie überhaupt zu haben.
Adieu, Herr Boris Wiesengrün.