Was „Putenmast“ bedeutet kann sich kaum jemand vorstellen. Tausende Tiere in einer Halle, auf einer immer dicker werdenden Schicht ihrer Exkremente bei zunehmend weniger Platz, bis sich Pute an Pute quetscht. Enormer Stress, Kannibalismus, Verletzungen, Krankheiten, Tote. 21 Kilo wiegen männliche Puten nach 21 Wochen Mast – am Ende ihres Lebens. Zwei kleine Putenjungs haben es im Oktober 2020 geschafft, ihrem Tod in der Mastanlage oder im Schlachthof zu entkommen. Wir nannten sie Claudius und Bibo.

Als die beiden einzogen, waren sie etwa 2 Wochen alt. Piepsende Küken, die den Schutz einer Mutter suchten, die sie nie hatten. Putenbabys schlafen nämlich eigentlich unter einem Flügel ihrer Mutter. So jung waren die beiden – und schon todkrank. Sie litten unter enormem Durchfall durch bakterielle Erkrankungen, Befall von Kokzidien und Darmpilz – ein „Standardproblem“ in der Putenmast. In den Mastanlagen ist es das größte „wirtschaftliche Problem“: dort verursacht es immense Leiden, viele Tote. Claudius und Bibo konnten wir durch sofortige gezielte medikamentöse Behandlungen retten. Für ihren kleinen Kumpel, der mit ihnen zusammen aus der Mastanlage kam, war es zu spät.

Es hat lange gedauert, bis sie „über den Berg“, waren und gut gelaunt ihre ersten Spaziergänge nach draußen machen konnten – in ein echtes Leben. Von Anfang an war klar, es wird kein langes Leben sein aufgrund ihrer schwergezüchteten Körper. Aber es wird ein gutes Leben sein.

Claudius und sein Kumpel lebten lange friedlich zusammen – und mit ihnen „ihre Mädels“ Jasmin und Jolanda, die mit ihnen nicht nur die Vergangenheit teilten, sondern vor allem das Hier und Jetzt. Eins mit Freundschaften und Freiheit, viel Putengejodel, Apfelpartys, Steifzügen durch die Wiesen zusammen mit Familie Ostermann. Claudius und Bibo verkrachten sich irgendwann und wurden ab da zu Nachbarn, die sich hin und wieder über den Gartenzaun anmuffelten.

Claudius überlebte Bibo, der irgendwann, wie es leider „bei Mastputen normal ist“, Bein- und Hüftprobleme bekam und nicht mehr hochkam. Und Claudius blieb der kernige, große, krawallige Typ. Der auch keine Probleme damit hatte, sein menschliches Personal zum Teil je nach Tageslaune oder systematisch aus seinem Garten zu verjagen. Er tat das nicht bei allen Menschen: Ausgesuchte durften da sein. Von denen ließ er sich auch die Federn nach Parasiten durchsuchen, ohne Gegenwehr, sondern voller Vertrauen.

Claudius wurde „Rekordhalter“ in Sachen Lebenserwartung und hat alle uns bekannten großen weißen Puter, die wie er als „Mastputer“ gezüchtet wurden, überlebt. Vor Wochen fing es bei dem mittlerweile drei Jahre alten Claudius an, mit einem „Problemfuß“, der so dick geschwollen war, dass Claudius lag und trotz Schmerzmittel nicht mehr laufen mochte. Wir fanden einen Dorn in seinem Fuß, den wir entfernen konnten, trotzdem besserte sich der Fuß nicht, so das er dann letztendlich in der Tierarztpraxis operiert werden musste, um an Flüssigkeit und Eiter heranzukommen. Dass damit und mit weiterhin Schmerzmittel- und Antibiotikagaben alles gut würde, die Hoffnung war klein. Besser wurde leider nichts.

Claudius hatte trotzdem längst nicht die Hoffnung aufgegeben. „Solang er nicht kapituliert, tun wir es auch nicht.“ Claudius war immer vielen Menschen gegenüber ein ziemlich unwirscher Typ, hat sein Putzpersonal oft genug verfolgt, gebissen und aus seinem Revier geschmissen, ohne Notfallapfel zum Ablenken ging kein Weg durch seinen Garten. Seit er krank war, war er die Geduld in Person, ließ alles mit sich machen, Fuß baden, Medikamente geben, Verband wechseln, alles, ohne übellaunig zu werden. Wir wünschten sehr, dass er wieder der alte Claudius würde, der, der Menschen verfolgt und rausschmeißt, wenn ihm danach ist – und tatsächlich verbrachte Claudius seine allerletzten Lebenswochen mit dem, was er immer getan hatte: mit seinen Mädels draußen Spazierengehen. Irgendwie lief er plötzlich wieder, mitsamt seinem dicken Fuß. Von ihm gebissen zu werden war plötzlich Grund, uns darüber zu freuen.

Vor allem weil wir wussten, das Fußproblem wird Folgen haben, körperliche – tödliche. Das längere Liegen und Fehlbelastung brachte ihm eine Schwellung des anderen, „guten“ Beins. Es war eine Frage der Zeit, wann die Hüfte anfangen würde, Probleme zu machen. Er nicht mehr aufstehen können würde und wir nichts mehr für ihn tun können würden. Er und wir uns von dem Wunsch verabschieden müssten, dass er jemals nochmal mit seinen Mädels spazieren gehen können würde.

Kaum ein Tier ist so gut in der Lage zu kommunizieren, wenn seine letzte Hoffnung gestorben ist, wie Puten es können. Und wir an diesem Tag akzeptieren müssen, nichts mehr für jemanden tun zu können, als ihn einschläfern zu lassen.

Adieu, Claudius.

Schwein Pauline im Land der Tiere, einem Lebenshof für ehemalige "Nutztiere" in Mecklenburg-Vorpommern, idyllisch gelegen im Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe zwischen Hamburg und Berlin

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