Liebevolle Erinnerungen

An dieser Stelle möchten wir unserer ehemaligen Mitbewohnerinnen und Mitbewohner gedenken. Danke, dass wir euch ein Stück eures Weges begleiten durften. Wir werden die Erinnerung an euch immer in unseren Herzen tragen.

Puter Georg im Land der Tiere, einem Lebenshof für ehemalige "Nutztiere" in Mecklenburg-Vorpommern, idyllisch gelegen im Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe zwischen Hamburg und Berlin

Die gelbe Frau Lehmann

Kein Morgen ohne ihre Kommentare und „Streusack-Faxen“.

Während die anderen Hühner es morgens kaum erwarten konnten, nach draußen auf Entdeckungstour zu gehen, blieb die gelbe Frau Lehmann im Hühnerzimmer. Immer. Sie wartete, bis die Tierversorgungsmenschen endlich kamen um das Zimmer zu putzen. Denn dann brauchten sie früher oder später ihren geliebten „Streusack“. Wenn es ihr mal nicht schnell genug ging, bis der endlich zum Einsatz kam, wurde lauthals gemeckert. Sobald der Sack dann aufgemacht wurde, gab es kein Halten mehr für die gelbe Frau Lehmann. Egal ob über den Tisch, Stuhl, Holzklotz – sie fand immer einen Weg, in den Streusack zu springen und dort zu scharren. Es war ihr morgendliches Ritual.

Frech, gesprächig, äußerst neugierig – so war die gelbe Frau Lehmann. Dass sie je so mutig werden würde, war lange nicht absehbar. Bei ihrem Einzug im Januar 2023 waren die gelbe Frau Lehmann und ihre Freundinnen schwer krank, kein Wunder, bei den Lebensbedingungen vor ihrer Rettung. Ihr Leben als „Legehenne“ in Käfighaltung ließ sie körperlich und seelisch kaputt zurück. Doch die Lehmanns erholten sich im Land der Tiere, tankten Kraft und Mut.

Wir konnten die Lebensbedingungen ändern, aber nicht ihre Zucht. Und die Folgen davon.

Von den sechs Lehmanns, die damals bei uns eingezogen sind, lebt heute noch eine. Die ehemals rote, jetzt unberingte, ist die letzte Frau Lehmann. Die gelbe Frau Lehmann war lange Zeit fit, so „fit“ ein Huhn mit ihrer Geschichte und ihrer Zucht sein kann. Als sie ruhiger wurde, haben wir sie medizinisch behandelt, aber es war zu spät. Sie ist nachts in ihrem Zimmer gestorben.

Es ist kein Trost, aber mit viereinhalb Jahren ist die gelbe Frau Lehmann beinahe „alt“ geworden für ein Huhn, dessen Körper auf „Effizienz und Produktivität“ gezüchtet wurde. Für die Industrie war sie besonders schmal mit maximaler „Legeleistung“. Für uns war sie die gelbe Frau Lehmann, deren Morgen unbedingt mit einem Ausflug in den Streusack starten musste, die einfach nur ihr Leben in ihrem Garten, mit ihren Freundinnen, gelegentlichen Apfelsnacks und wärmenden Sonnenbädern führen wollte. Und es zum Glück bis zuletzt auch so führen konnte.

Adieu, gelbe Frau Lehmann.

„Chefin Hasenbein“

Wir hatten grade der Tierhalterin klargemacht, dass wir nicht vom Hof gehen würden, ohne alle Kaninchen, die in den winzigen, vergammelten Kaninchenbuchten hockten, weder Essen noch Wasser hatten und zum Teil sterbenskrank waren, mitzunehmen. Die Tiere lebten dort, um sich zu vermehren, geschlachtet zu werden. „Aber meine Lieblingshäsin, die bleibt hier, mit der will ich weiterzüchten“, sagte sie.

Die „Lieblingshäsin“ sah ein bisschen anders aus als alle anderen Kaninchen. Ein bisschen grauer, ein bisschen dunkler. Und sie blieb natürlich nicht da. Alle Kaninchen kamen mit. Und tatsächlich geschah mit den furchtbaren Kaninchenbuchten, in denen seit Jahrzehnten unfassbar viele arme Kaninchen litten, bis sie geschlachtet werden, das einzig Richtige: sie wurden zu Kleinholz zerlegt. Irgendwann fuhren wir vorbei – und im Garten, wo die Ställe vorher standen, war ein großes „Lagerfeuer“.

Die „Lieblingshäsin“ hatte unterdessen das, was nur durch einen Zufall möglich wurde: ein echtes Kaninchenleben. Sie sah nicht nur ein bisschen anders aus als die anderen der Familie Dr. Hasenbein, sondern war auch immer etwas anders. „Wilder“, „robuster“, „bestimmter“. Es geschah nicht rein zufällig, dass sie zur Familienchefin wurde.

Chefin Hasenbein war die mit dem besten Gesundheitszustand. Immer. Während sich die Familie mit mitgebrachten Krankheiten bzw. deren Folgen plagte, einige Familienmitglieder unter Knochenproblemen und chronischem Schnupfen litten und sich die Familie im Laufe der Jahre dadurch verkleinerte, blieb die Chefin immer gesund. So als ob ihr niemals etwas passieren könnte.

Umso überraschender kam dann in diesem Sommer der Fliegenmadenbefall bei ihr. Denn normalerweise „erwischt“ so etwas kranke, geschwächte Kaninchen. Manchmal reicht allerdings auch eine kleine feuchte Stelle an dunklen, warmen Körperregionen, um die Katastrophe auszulösen. Chefin Hasenbein war alles andere als begeistert von den notwendigen Notfall- und weiteren Behandlungsmaßnahmen. Und genauso unbegeistert davon, dass wir für die Dauer der Behandlung „Freiheitsberaubung“ in einem geschlossenen Zimmer betreiben mussten. Ihre Meinung: mit einer Hasenbeinchefin macht man sowas nicht. Und ihr gibt man keine Medikamente. Da mussten wir dann aber alle durch.

Alles wurde wieder gut. Ihre Wunden heilten vorbildlich. Und alle Hasenbeine konnten wieder das tun, was sie wollten: draußen sein, ihre Ruhe haben, selbstbestimmt bis auf regelmäßige Gesundheitskontrollen durch uns ihre Tage verbringen. Bei einer Kontrolle fiel dann auf, dass mit der Chefin etwas nicht stimmt. Es hätte zu ihr gepasst, sich bloß nichts anmerken zu lassen. Bevor wir diagnostisch weiterkamen verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand drastisch. Sie starb da, wo sie immer glücklich war, Zuhause im Kreis ihrer Familie.

Adieu, Chefin Hasenbein.

Jasmin

Je älter sie werden, umso „spezieller“ werden sie. Entwickeln so viele Eigenheiten, Vorlieben, Wünsche und „Macken“ – und manchmal ändern sich auch Pläne, so wie bei Jasmin.

Andere hatten vor 5 Jahren für das zu dem Zeitpunkt namenlose Putenküken diesem Plan: Einsperren, Mästen, Profit machen, Schlachten, zu „Putenbrustfleisch“ verarbeiten. Noch Andere den Plan, sie davor zu bewahren. Und wir dann den Plan, dass sie mit ihrer Freundin Jolanda, die zusammen mit ihr aus einer Putenmastanlage befreit wurde, glücklich leben kann bis ans Lebensende. Der zweite Plan wurde wahr, und das war auch der allerwichtigste Plan: einfach ein gutes Putenleben haben zu können. Jemand sein zu dürfen. Mit allen Eigenheiten, Vorlieben, Wünschen und „Macken“

Jasmin und Jolanda waren versehentlich in einer Mastanlage mit lauter männlichen Puten gelandet. „Falsch gesext“, denn männliche und weibliche Puten werden fast immer getrennt gemästet. Bzw. werden weibliche Puten hierzulande überhaupt sehr selten gemästet, weil sie „nicht das bringen“, was mensch will: maximal viel Fleischansatz in minimaler Zeit. Da lohnt es sich viel mehr, nur die extraschweren Putenhähne zu mästen, die weiblichen Küken gleich wegzuwerfen oder zu exportieren.

Jasmin und ihre Freundin waren ziemlich mitgenommen von dem, was sie durch hatten in ihrem kurzen Leben in der Mastanlage. Dauerstress, dazu tausend Jungs, die langsam geschlechtsreif wurden. Ihre Überlebenschancen waren ja eh schon Null, weil sie bald geschlachtet werden sollten, aber noch geringer war die Chance, bis dahin überhaupt zu überleben.

Nach ihrer Quarantänezeit bei uns lernten sie Claudius und Bibo kennen. Etwa gleich alt bzw. jung, denn alle Putenkids waren erst ein paar Wochen alt. Es wurde… wunderschön mit ihnen. Alle vier waren so eng verbunden, sie waren so neugierig aufs Leben, unbeschwert, liebten es, wenn sie mit uns spazieren gehen konnten. Liebten es, zusammen mit Familie Ostermann in ihrem Garten zu sein – und das zu tun, wonach ihnen war. Herumrennen, Sachen suchen, Äpfel essen, sandbaden oder einfach zusammen unter einem Baum kuscheln.

Jasmin und Jolanda mussten im Lauf der Zeit damit klarkommen, dass erst Bibo und dann Claudius starb. Sie hielten zusammen, waren sich immer ganz nah. Auch, als sie irgendwann zwei neue Mitbewohner bekamen. Mit den beiden Cröllwitzer Putern Justus und Aljosha war alles harmonisch. Klar, die Jungs prügelten sich ab und an. Aber sie liebten sich dann doch mehr und rauften sich immer wieder zusammen. Natürlich hatte das auch etwas mit den mittlerweile „alten“ Mädels zu tun, um die sie sich bisweilen prügelten.

Wahrscheinlich geschah es dabei, dass einer von den Jungs Jasmin eine „Paarungsverletzung“ zufügte. Das war aber nicht das Schlimmste, denn so etwas heilt. Nicht heilte der Streit, der daraufhin zwischen Jasmin und Jolanda ausbrach. Sie wurden „unversöhnlich“. Ja, das ist nicht ungewöhnlich in Putenbeziehungen. Wenn es kracht, kracht es manchmal so, dass es keine andere Möglichkeit gibt, als sie zu trennen.

Es war die schwerste Entscheidung – und die einzig Richtige. Jasmin zog aus. Bewohnte ab sofort ein Zimmer in Hausnummer 2. Und war glücklich dort. Es sei denn, Menschen kreuzten ihre Wege, die sie dort nicht haben wollte. Da war Jasmin äußerst konsequent. Vielleich machte es sie auch ein bisschen glücklich, erfolgreich Leute aus ihrem Garten zu schmeißen, von denen sie nicht gekrault werden wollte. Mit den anderen konnte sie nie genug Zeit haben.

Die Idee, sich mit den Nachbarputinnen anzufreunden, fand sie mal so, mal so. Jasmin entschied sich gegen ein Zusammenleben mit ihnen, verbrachte aber trotzdem viel Zeit mit den Nachbarinnen, manchmal lagen sie am Zaun zusammen im Gras und schliefen oder putzten sich ganz entspannt. Ohne Zaun dauerte es nie länger als ein paar Minuten, bis es Streit gab. Echten Streit, den man bei alten Puten, die sowieso körperlich nicht mehr die fittesten sind, nicht zumuten darf.

So hielt sich Jasmin tatsächlich gut, obwohl die Hüfte schon lange nicht mehr sehr beweglich war. Mit Schmerzmitteln lief sie durch ihren Garten, konnte alle Wege machen, die sie wollte. Dass sie sogar ihre Ex-Freundin Jolanda überleben würde, daran hatten wir nie gedacht.

An Jasmins letztem Tag war allen klar, dass ihr Leben vorbei ist. Dem letzten Termin bei unserer Vogeltierärztin griff Jasmin vorweg. Sie starb dort, wo sie fünf Jahre sein konnte, wer und wie sie war.

Adieu, Jasmin.

Pü blieb immer Pü.

Als Pü ankam im Sommer vor zwei Jahren war er ein Küken, grade ein paar Wochen alt. Unfassbar lieb und putzig, ganz weltoffen, gesprächig und freundlich, so eng verbunden mit seiner kleinen Freundin Cosma, etwa gleich jung wie er. Zwischen die beiden passte kein Blatt, ob wohl sie sich erst seit ein paar Tagen kannten. Beide hatten nie, was Vogelküken normalerweise haben: eine Mutter. Unter deren Flügel es Schutz, Wärme und Geborgenheit gegeben hätte. Weil beide in einer Brüterei schlüpften, maschinell, als „Masttiere“. Ihre Wege begegneten sich bei einer Tierschützerin, die sie davor bewahrte zu werden, was geplant war: Masttiere, ein paar Wochen schlechtes Leben, geschlachtet werden. Alles vorbei, nie angefangen, das echte Leben: Leben mit Liebe und Freundschaften und Freiheit. Pü entkam der vorbestimmten schlechten Geschichte ohne Zukunft.

Und dann wäre beinahe trotzdem alles schiefgegangen. Seine Retterin rettete ihn, aber dann lief nichts, wie es hätte sein sollen. Sie war völlig unerfahren mit „Mastvögeln“, wusste nicht, dass grade die ersten Lebenswochen entscheidend sind, wenn die Tiere mit ihren auf Turbowachstum gezüchteten Körpern länger leben sollen als „bis zur Schlachtreife“ mit wenigen Wochen. Platz hatte sie auch keinen für Pü und Cosma und ihren Bruder. Und vielleicht starb Cosmo so früh, weil alles war, wie es war – und sie es nicht besser wusste. Trotzdem war es „ein Hauptgewinn“ für Cosmo: trotzdem ein paar Monate glücklich leben zu können, statt im Alter von vier Wochen geschlachtet zu werden.

Seinen Namen bekam Pü bei uns, weil er so ein sanfter Typ war, „Pü“ war zudem das, was er sagte, die Konsistenz seiner Ausscheidungen waren auch „Pü“, weil er so krank war, als er kam. Wir behielten uns vor, ihn wenn er erwachsen sein würde, Püdelius zu nennen. Aber Pü blieb immer Pü. Ein lieber, zarter, sanfter Riese. Er wurde wirklich riesig. Und lange, für einen „Mastputer“ sehr lange Zeit, ging alles gut für ihn mit seinem riesigen Körper.

Puter Pü und „Mast“-Henne Cosma verband über zwei Jahre lang eine tiefe Freundschaft. Unzertrennlich. Machten ihre Wege gemeinsam. Schliefen nebeneinander. Über zwei Jahre, das ist für solche Vögel, die für die Fleischproduktion gezüchtet wurden, „enorm alt“. Vögel ihrer Art werden oft nur ein paar Wochen alt, sterben mit körperlichen Problemen, weil die Knochen das enorme Gewicht nicht tragen können, das Herz-Kreislauf-System nicht durchhält. Pü hatte lange Zeit wirklich Glück mit seinem Körper. Aber in seinem dritten Sommer fing es dann an: Knochenprobleme. Irgendwann würde der Tag kommen, wo er nicht mehr aufstehen könnte.

Erst verlor er seine Körperhaltung, zwang sein Brustmuskel ihn sozusagen in die Knie. Ein dicker Fuß, geschwollene Gelenke folgten. Es ist der typische Verlauf, den fast jeder Puter in seinem „hohen Alter“ nimmt. Pü war seit die Probleme anfingen „Schmerzpatient“ – und wir glücklich, dass die Medikamente ihre Wirkung zeigten und ihn mobil hielten. Nach einer Phase, wo wir dachten, es kann nur noch bergab gehen folgte tatsächlich noch eine von einigen Wochen, wo er trotz Fuß und Knie und Hüfte lief, als sei nichts. Sogar seine Körperhaltung fand er nochmal wieder, der zarte Riese, konnte wieder glücklich mit Cosma und seinen Putenfreundinnen herumspazieren.

Ein bisschen mehr als zwei Jahre… Puten können eigentlich über 10 Jahre alt werden, wenn sie nicht auf maximales „Brustfleisch“ gezüchtet wurden. Pü hatte nie eine Chance auf annähernd 10 Lebensjahre, nicht mit seinem über 25 Kilo schweren Körper. Aber er hatte eine Chance, glücklich zu sein bis zu seinen letzten Tagen, an denen es keine Hoffnung mehr gab, dass er noch einmal würde aufstehen können.

Adieu, Pü

Die blaue Frau Lehmann

Sie war die, von der wir dachten, sie überlebt die ersten Tage nicht. Dann war sie „die mit den ganzen Tumoren“, wie ihr Röntgenbild vom Sommer letzten Jahres zeigte. Doch die blaue Frau Lehmann überlebte die ersten Tage und sollte auch noch über ein Jahr mit den Tumoren leben.

Die Tumore: eine Folge der Zucht auf hohe Legeleistung. Laut Katalog konnten die Betreiber der Anlage, in der Frau Lehmann und die 80.000 anderen Hühner lebten, mit 302 Eiern im Jahr rechnen. Dass das gravierende, letztendlich tödliche Folgen für die Hühner hat, ja, jedes einzelne Huhn betrifft, ist in einem System, wo es nur um Profit und nicht um Lebewesen geht: vollkommen egal. Die Hühner wären nach anderthalb Jahren sowieso getötet worden. Um sie geht es nie.

Die blaue Frau Lehmann und 1.000 andere Hühner hatten Glück, sie konnten der Schlachtung entkommen und wurden in einer großen Rettungsaktion an schlachtfreie Zuhause vermittelt. Eines davon: Das Land der Tiere. Hier zog die blaue Frau Lehmann zusammen mit fünf Freundinnen ein. Sie war die drittletzte Überlebende der Gruppe.

Die blaue Frau Lehmann hat dem System, dass ihren Körper kaputt gemacht hat, lange und hartnäckig getrotzt: Den schlechten Haltungsbedingungen, die sie so krank gemacht haben, dass sie ihre Rettung fast nicht überlebt hätte. Dann die Tumore in ihrem Bauchraum. Doch in ihr steckte so viel mehr als diese Tumore, für die sie nichts konnte: die blaue Frau Lehmann strotzte nur so vor Lebenslust. Sie war von Anfang an die mutigste unter den einst so schüchternen Lehmanns, war forsch, neugierig und schien oft unaufhaltbar.

Sie nutzte die Zeit, die sie hatte. Ein besonderes Anliegen war ihr das „richtige“ Nest: Die Hühner haben in ihrem Zimmer eine Vielzahl an Nestern zur Verfügung, aber die blaue Frau Lehmann wusste genau, welches sie wollte und welches nicht und hielt sich mit Kommentaren über ihre Auswahl nie zurück. Ihr gutes Recht! Sie liebte ihre Ausflüge im Gehege, mal in Gesellschaft mit den Leuten, die sie mochte, mal alleine, wenn ihr danach war. Sie nahm Sonnenbäder, sortierte Laub, lauerte auf Apfelrunden am Mittag oder döste unter einem der Tische oder Büsche. Tat all das, was selbstverständlich sein sollte, aber es so lange in ihrem Leben nicht war und für die allermeisten Hühner in Deutschland nie sein wird.

Lange ging es gut mit dem Trotzen, doch dann baute die blaue Frau Lehmann innerhalb kurzer Zeit ab. Schnell war klar, dass ihr Körper und die Folgen der Zucht sie eingeholt haben. Wir konnten ihr nicht mehr helfen. Sie wurde in der Tierarztpraxis eingeschläfert.

Adieu, blaue Frau Lehmann.

Ali Ostermann

Er war der kleinste der Osterkinder: Ali Ostermann.

Seine Großeltern Schecken, seine Eltern Geschwister – Ali war, wie die anderen aus der Familie Ostermann, „genetisch vorbelastet“. Sein Vater, Archie Ostermann, war durch seinen Spaltpenis und die innenliegenden Hoden rein äußerlich für uns eindeutig als weiblich zuzuordnen – bis wir plötzlich Nachwuchs bei Familie Ostermann fanden, mit dem ja wegen der kastrierten Jungs gar nicht zu rechnen war. Archie wurde als „Übeltäter“ ausgemacht, kastriert, und Ali war einer von den überraschend Neugeborenen.

Er wuchs mit den anderen in der Großfamilie auf, in Sicherheit, hatte über 1.700 Quadratmeter Platz, um den Verwandten aus dem Weg zu gehen, wenn nötig, um zu hoppeln, zu entdecken oder zu buddeln. Und zum Kuscheln. Wie das so ist, hatte Ali natürlich auch „seine Leute“, in dem Fall sein bester Kumpel, mit dem er am liebsten gekuschelt hat. Mit dem zweiten „Fußpatienten“ seiner Familie, Schlupp Ostermann, teilte er lange Zeit mehr als die mindestens alle zwei Tage notwendigen Ausflüge ins Behandlungszimmer. Zum Ende hin, wo sich seine Mobilität einschränkte, hat Ali sogar noch eine neue Freundschaft geschlossen, mit „Fußballnase Ostermann“, der ihn früher lieber geärgert hat, sich dann aber gegen das Jagen von Ali und fürs Kuscheln mit ihm entschieden hat.

Alis körperlicher Zustand war lange schon nicht gut. Er hat ebenso lange mit Schmerzmitteln richtig Bock auf sein Leben gehabt, war unterwegs, pflegte seine Freundschaften, lag in der Sonne rum, schlug sich den Bauch voll, ließ sich von seinem Körper nicht groß zurückhalten oder beeindrucken.

Bis es nicht mehr ging. Der Zustand seiner Füße wurde schlimmer. Was Monate zuvor an einen Fuß begonnen hatte, „wanderte weiter“, trotz Behandlung. Ali konnte irgendwann nicht mehr unterwegs sein, wie er wollte, blieb in seiner Bude, eine Besserung war medizinisch nicht mehr möglich.

Am Ende konnten nichts mehr für ihn tun, außer ihm die letzte Fahrt zur Tierarztpraxis ersparen. Ali wurde in seinem Zuhause eingeschläfert.

Adieu, Ali Ostermann.

Kaktus

Als das Ordnungsamt am Telefon war und fragte, ob wir eine Idee haben, wer sich in der Gegend um zwei ältere Bartagamen aus der Wohnung einer zwangseingewiesenen Person kümmern könnte, wussten wir niemanden in der Gegend – die Tierheimlandschaft ist hier dünn und kaum auf andere Tiere als Hunde und Katzen ausgelegt. Auffangstationen für Exoten: gänzliche Fehlanzeige. Wir wussten niemanden in der Gegend. Weil es niemanden gibt. Also fuhren wir los, um die beiden abzuholen.

Es war nicht einmal sofort feststellbar, ob die beiden Bartagamen in dem Terrarium überhaupt noch leben. Wie lange keine Heizung und Beleuchtung lief, wann sie das letzte Mal etwa essen konnten, wusste niemand. Die beiden klapperdünnen Bartagamen lebten, aber viel Leben war nicht mehr in ihnen …

Die meisten Reptilien hassen Umzüge, und es kann sie extrem belasten, wenn sie ihre gewohnte Umgebung verlieren. Schon darum hatten wir angekündigt, dass wir die Tiere mitsamt Terrarium abholen würden. Das wäre kein Problem – das würde in einen kleinen Kombi passen. Am Ende hat es die Hilfe der Freiwilligen Feuerwehr gebraucht, um mit sechs Personen das megaschwere Terrarium, das in keinen Kombi gepasst hätte, aus dem Haus zu holen. In den Feuerwehr-Mannschaftsbus passte es dann so eben.

Angekommen im Land der Tiere gab es dann Freibier für die Feuerwehr – und Wärme für die Bartagamen. Erst war unklar, ob ihre Halterin sie irgendwann wieder abholen wollen würde (und dürfte). Es klärte sich dann recht schnell, dass sie die Tiere nicht wiederbekommen würde. Sie wurden dann behördlich „zu unserem Eigentum erklärt“. Und wir hatten Klarheit, dass die beiden für immer bleiben würden – sofern sie die nächste Zeit überhaupt überstehen würden.

Sie überstanden sie. Ein paar Wochen später war klar, dass sie gesundheitlich aus dem Gröbsten raus sind, wenn auch ihr Darmpilz eine unbesiegbare Sache bleiben würde. Kaktus und Schröder, so hießen die beiden mittlerweile, waren muntere Bartagamen geworden und nahmen stetig zu. Ihr Spezialgebiet: bunter Gourmet-Salat, handverlesen, bitte gerne per Handfütterung einzelner Blättchen. Noch besser: Blumen essen!

Kaktus und Schröder waren immer unzertrennlich. Das ist bei Bartagamen, denen nachgesagt wird, sie seien strikte Einzelgänger, ein bisschen ungewöhnlich. Zwischen ihren gab es keinen Streit, kein Gedrohe, keine Dominanz einer der Beiden. Am liebsten hingen sie zusammen auf ihrem Lieblingssonnenplatz herum und beobachteten die Spornschildkröten, „ihre Winterhaustiere“. Und warteten natürlich auf die nächste Salat- oder Blumenlieferung. Ganz schön viele in den letzten sechs Jahren.

Jetzt liegt Schröder alleine auf dem Lieblingssonnenplatz. Es kam völlig überraschend und unvorbereitet, denn Kaktus war am Tag davor ganz normal. Ein Blick in ihre Augen reichte um zu sehen, wie schlecht es ihr ging, dass sie am Sterben war und wir es nicht mehr aufhalten konnten.
Adieu, Kaktus.

Die grüne Frau Lehmann

Sie war immer eine der ersten, wenn es Äpfel gab: Die grüne Frau Lehmann.

Kaum zu glauben, dass sie einst Angst vor Äpfeln hatten. Angst vor fast allem, was ein schönes Hühnerleben ausmachen kann, schlicht, weil sie es nicht kannte. Ihre Realität vor der Rettung: Eingesperrt, in einem Käfig, auf viel zu wenig Platz, mit zu vielen anderen Hühnern, ohne Aussicht auf Besserung.

Vor ihrer Rettung wurde die grüne Frau Lehmann als „Legehenne“ ausgebeutet, in sogenannter „Kleingruppenhaltung in Volieren“ – eine Umschreibung für „Käfighaltung“. Wie üblich, sollten die 80.000 Hennen nach anderthalb Jahren Nutzung geschlachtet werden, doch der Verein Stark für Tiere konnte für etwa tausend der Hennen Lebensplätze sichern. Sechs davon kamen ins Land der Tiere: Die Lehmanns.

Die grüne Frau Lehmann und ihre Freundinnen waren psychisch wie physisch völlig am Ende, die Lebensbedingungen hatten heftige Spuren hinterlassen, sie verbrachten lange Zeit in Quarantäne. Als sie nach fast zwei Monaten zum ersten Mal rauskonnten, waren die Lehmanns anfänglich überfordert von der neuen Welt, vom Himmel, vom Gras, von allem. Auch von Äpfeln. In deren Nähe haben sie sich erst nicht gewagt. Und dann, es hat so zwei, drei Wochen gedauert, war es endlich so weit. Die Lehmanns waren mit den anderen Hühnern am Apfel picken, liefen immer weiter verteilt durch ihr Gehege, erkundeten, holten nach, was sie alles verpasst hatten.

Und die Lehmanns hatten so viel verpasst. Alles nur, weil Menschen Hühner für Eier ausbeuten.

Doch die grüne Frau Lehmann war so eine Type, die irgendwann beschlossen hat, nichts mehr verpassen zu wollen. Bei jedem Apfel vorne mit dabei. Rumspringen auf den Tischen und Stühlen, die zum Schutz im Hühnergehege stehen? Dabei. Gefühlt immer, wenn was los ist im Hühnergehege: dabei. Beim morgendlichen Zimmerputz? Dabei, am liebsten zusammen mit der gelben Frau Lehmann.

Und dann hat sie sich noch selbstständig einem der Ringe, die wir zur schnellen Auseinanderhaltung aus der Ferne angelegt hatten, entledigt – und damit selbst umbenannt: aus der doppelt-grünen Frau Lehman wurde sie so zur grünen Frau Lehmann.

Was letztlich dazu geführt hat, dass sie gestorben ist, wissen wir nicht. Sie war morgens noch wie immer mit den anderen unterwegs. Mittags fanden wir sie dann an dem Ort, wo sie und ihre Freundinnen gerne ihre Sandbäder nahmen. Sie lag „friedlich“ im Sand, hatte keine äußerlichen Einwirkungen. Die grüne Frau Lehmann ist über vier Jahre alt geworden – fast schon alt für ein Huhn „ihrer Art“, zumal mit dem Lebensanfang.

Adieu, grüne Frau Lehmann.

Alberti

Alberti wird als traurigstes Meerschweinchen in unsere Geschichte eingehen – und als derjenige, der es schaffte, 18 andere Meerschweinchen zu retten.

Albertis Leben war wahrscheinlich immer nur schlecht. Sein Verhalten war das eines resignierten Einzelmeerschweinchens, das nie Freude am Leben hatte. Wahrscheinlich saß er jahrelang in einem kleinen Stall – und hatte nichts und niemanden. Diejenigen, die er hatte, also denen er „gehörte“, setzten ihn vor ein paar Monaten in einer Transportbox neben einem Waldweg aus.

Ab da bzw. ab dem Zeitpunkt, wo er von Spaziergängern gefunden wurde, unweit vom Land der Tiere, sollte eigentlich alles gut werden. Alberti zog bei uns ein – und sollte endlich ein gutes Meerschweinchenleben haben können. Mit allem, was dazu gehört. Gesellschaft stand ganz oben auf der Wunschliste für ihn.

Alberti wurde kastriert, um ein paar Wochen später andere Meerschweinchen kennenlernen zu können. Da dachten wir noch daran, ihn vielleicht zu vermitteln an liebe Leute zu ein paar netten Meerschweinchendamen. Nach der Kastration dachten wir das sehr schnell nicht mehr. Denn alles war richtig schiefgelaufen. Die äußerliche Wundheilung verlief sehr gut. Zwei-drei Wochen später saß er in einem seiner Häuser wie ein Eremit und es ging ihm sichtbar schlecht. Der Grund: ein dicker Kastrations-Abszess.
Der aufgeschnitten werden musste. Nochmal Narkose. Danach jeden Tag Wundspülungen, Medikamente. An einem Tag spülten wir nicht nur Eiter, sondern auch noch einen dicken Brocken totes Gewebe aus der Wunde. Als ob das nicht alles schlimm genug gewesen wäre, während wir den einen Abszess spülten und behandelten, schwoll ein paar Tage später auch die andere Seite… der zweite Kastrationsabszess.

Wir besiegten die Abszesse. Aber in ihn hereinschauen konnten wir nicht. Und was noch alles passierte, wir hätten es ihm gerne erspart. Alberti bekam zunehmend Probleme mit dem Kotabsatz. Der Grund: es sammelte sich das meiste davon in einer übergroßen, schlaffen Perianaltasche, die vor der Kastration so nicht existierte, und verklumpte dort. Für Alberti bedeutete das, dass wir ihn jeden Tag von seiner Ansammlung, die er alleine nicht loswurde, befreien mussten und er natürlich täglich Schmerzmittel bekam.
Auch das reichte noch nicht des Schlechten. Er bekam dann seinen Penis nicht mehr selbständig zurückgezogen. Den putzten wir also einfach jeden Tag mit und positionierten ihn dahin, wo er eigentlich sein sollte. Alberti ließ es über sich ergehen.

Ein Versprechen lösten wir zwischenzeitlich ein: das mit der Gesellschaft. Wir dachten die ganze Zeit: „wenn es irgendwo drei alte Meerschweinchenmädels gibt, die ein Zuhause suchen, ziehen sie ein“. Und dann kam alles ganz anders, in zweierlei Hinsicht. Denn aus der Rettung von „drei Meerschweinchen für Alberti“ wurde die Rettung von 16 Meerschweinchen. Das wussten wir allerdings erst, als alle schwanger geretteten Tiere ihre Babys bekommen hatten. Viel früher schon wussten wir, dass Alberti völlig überfordert sein würde, allein schon Sichtkontakt mit denen, die seine Gesellschaft sein sollten, lehnte er ab. Zog sich zurück in die hinterste Hütte.
Am Ende klappte es doch mit der Gesellschaft: drei alte Mädels, Abgabetiere, denen wir ohne Alberti bei der Vielzahl der Meerschweinchen nicht zugesagt hätten, zogen zu ihm, zwei davon „gesundheitliche Baustellen“. Dass ausgerechnet die, mit der er den Kontakt suchte, ganz vorsichtig, er sogar seine Eremiten-Buden mit ihr teilt, nur noch wenige Lebenstage vor sich hatte, es vervollständigte Albertis traurige Geschichte. Mit den anderen beiden hatte er keine großen Verträge. Man begegnete sich, aber mehr auch nicht. Albertis Highlights blieben nach wie vor unsere Möhren-, Gras-, Salat- und Paprikalieferungen.

In der Zwischenzeit hatte sich sein körperlicher Zustand noch mehr verschlechtert. Eins seiner Hinterbeine hielt er seit der Kastrationskatastrophe leicht schief, die Hüfte… Das wurde zunehmend schlechter, betraf dann auch das andere Hinterbein. Er eierte mehr als dass er lief – hoffentlich schmerzfrei dank Schmerzmitteln. Dass der Tag nah ist, wo er uns eindeutig sagt, dass sein Körper ihn quält, wurde in den letzten Wochen sehr klar. Heute war er dann so weit, das eine Hinterbein bereitete ihm solche Probleme, dass er sich selbst in sein Bein biss. Und wir mit ihm – mal wieder – in die Tierarztpraxis fuhren.

Das Röntgenbild war eindeutig. Alberti hatte Recht. Selbst wenn es eine Überlebensoption gewesen wäre, ihm das ganz schlimme Hinterbein amputieren zu lassen, dessen Knochen in Auflösung waren, wir hätten es ihm nicht angetan. Es gab keine andere Entscheidung, als ihn einschläfern zu lassen.

Wir wolten heute seine Patinnen und Paten informieren, dass Alberti gestorben ist. Er hatte keine, stellten wir fest – es passt zu seiner so traurigen Geschichte.
Alberti wird in unsere Geschichte eingehen, als derjenige, der es schaffte, 18 Meerschweinchen zu retten, die nur für ihn ins Land der Tiere einzogen. Und jetzt das Leben haben können, das er nie hatte.

Adieu, Alberti.

Gustav

Eine Zeit lang gab es den Versuch. Jemand, der nicht Tanja ist, übernimmt die Betreuung von Gustav und seinen Mädels. Gänzlich gescheitert.

Gustav war so sauer und regte sich so auf, wenn jemand anderes sein Zimmer oder seinen Garten betrat, dass es so kam, wie er es wollte. Die Einzige, bei der er sich nicht aufregen musste, sie nicht aus dem Zimmer schmiss, nicht motzte, meckerte, ansprang und biss, wenn es ans Frühstück, das Abendessen, ans Putzen oder die Extra-Apfelportion zwischendurch ging, übernahm seine Versorgung. Für immer. Jeden Tag. Viele Jahre lang.

Als Gustav vor 7 Jahren im Alter von 6 Jahren einzog, sah er das noch nicht so eng. Er war unsicher. Eher schüchtern. Kein Wunder, denn er war ein trauriger, trauender Vogel, der alles verloren hatte, was sein Leben bis dahin war. Er landete nach einer Hofräumung zusammen mit seinem Gefährten, ob es Vater oder Bruder war, mit dem er sein ganzes Leben verbracht hatte, ist nicht überliefert, im Tierheim Süderstraße. Schlimm genug für ihn, aber es kam noch sehr viel schlimmer. Sein Gefährte starb kurz nach der Ankunft im Tierheim. Gustav war alleine.

Als wir von der Tierheimleiterin gefragt wurden, ob wir dem traurigen Gustav helfen können, war sofort klar: Gustav wird bei uns einziehen. Erste Idee: er zieht zu zwei „älteren“ weißen weiblichen Puten, die grade ihren Freund verloren hatten. Ihren Freund, grade mal etwas älter als zwei Jahre. Weiße, schwere, für die Putenmast gezüchteten Vögel, haben dann bereits so viele körperliche Probleme, dass sie „biologisch uralt sind“ und ihre Körper sich verabschieden, obwohl sie doch eigentlich noch so jung sind.

Gustav war schon über dreimal so alt, als er einzog. Aber von wegen „alt“: keine Spur davon. Ganz schnell war klar: er und die körperlich schon eingeschränkten weißen Putinnen, das wird nichts. Nicht weil sie sich nicht mochten, sie waren ihm und seinen „Liebesbeweisen“ einfach körperlich nicht gewachsen. Und nun? Kamen Gesa und Josefine ins Spiel. Die saßen grade als gezüchtete Vertreterinnen „aussterbender Rassen“ in einem „Nutztierpark“. In der „Küchenvoliere“, denn sie entsprachen nicht dem „Rassestandard“ und sollten aus diesem Grund geschlachtet werden. Wurden sie nicht. Wir holten sie – zu Gustav.

Und es wurde gut. Gustav schwankte zwischen „väterlicher Freund“ und „Lover“. Hat beides unter einen Hut gekriegt. War fürsorglich in allen Situationen. Hat sich für seine Mädels mit Autos duelliert, in denen er sein Spiegelbild sah und „den anderen“ besiegte. Seine Mädels waren immer fein mit ihm – meistens. Wenn Gesa sich über die Zäune abmachte, um mal die anderen Puter im Land zu besuchen, haben wir immer nur gehofft, niemand verrät das Gustav. Den Rüffel dafür bekam sie nie von ihm – sondern von ihrer Freundin Josefine, wenn sie wieder nach Hause kam.

Irgendwann zogen dann noch Sprotte, eine Zwerghenne, und Fräulein Schmittlauch, Odette und Monique, drei weiße „Mast-Zucht-Putinnen“, zu den dreien. Gustav hatte alles im Griff, war ihr Vertrauter, der aufgrund seines mittlerweile hohen Alters und reifer Erfahrenheit auch keine „Sexunfälle“ mehr verursachte. Und Sprotte, die Zwerghenne, hatte noch mehr alles im Griff. Auch den „knödeligen“ Gustav. Wenn ihm jemand klar die Meinung sagen durfte, dann Sprotte. Oder die Zwergkaninchen. Die Putendamen hatten das gar nicht nötig – und liebten ihren Gustav genau so, wie er war.

Vor allem die verschrobene alte Odette, die zu Menschen ein ähnlich wählerisches Verhältnis hat. Wenn Gustav sich für die Nacht neben Monique ins Strohbett kuschelte, fand Odette immer noch ein Plätzchen an seiner anderen Seite. Ganz nah schliefen sie immer zusammen. Auch an Gustavs letztem Tag.

Gustav war mittlerweile 13 Jahre alt. 13! Und natürlich war das Altern nicht ganz spurlos an ihm vorbeigezogen. Irgendwann begann es, dass seine alte Hüfte anfing, Probleme zu machen. Täglichen Schmerzmittelgaben sei Dank hat ihn das aber nie von irgendetwas abgehalten und er drehte stolz seine Runden durch seinen Garten. Und schmiss die Leute raus, die er da nicht sehen wollte. Das ging tatsächlich bis zum Ende so, wo sein alter Körper anfing, sich zu verabschieden.

Als Tanja ihm das letzte Abendessen und seine Medikamente brachte, war klar, dass es sein Letztes sein würde. Für seinen endgültigen Abschied nach einer Nacht eingebettet zwischen Odette und Monique und unter Sprottes Aufsicht wartete er bis zum nächsten Morgen, bis auch seine einzige menschliche Vertraute wieder da war.

Adieu, Gustav.

Hoppins

Manchmal passiert es von einer Stunde auf die andere.

Ganz früh war noch alles wie immer, Hoppins, sein Bruder Poppins und Primelchen haben um 7 Uhr zusammen gefrühstückt und ein bisschen ungeduldig darauf gewartet, dass endlich die Volierentüren zum Garten aufgehen. Das „Es ist aber noch dunkel-Argument“ zählt bei den Zwergen nämlich nicht, schließlich will auch ein Zwerg so richtig was vom Leben haben.

Auch danach draußen war alles wie immer. Poppins und Primelchen irgendwo unter den Büschen mit „Liebesspielen“ beschäftigt, während sich Hoppins seine Auszeit von den beiden genommen hat und Blätter essend um die Bäume zog. Er war schon immer gerne mal für sich unterwegs, lieber mit Huhn Sprotte und den Puten als mit seinem Bruder, der bisweilen eine echte Nervensäge sein kann. Auch Primelchens Liebesbeweise, das war ihm immer eher ungeheuer, wenn sie ihn ablutschte. Er hat einfach abgewartet, bis es vorbei war – und ist dann seiner Wege gegangen.

Manchmal flogen auch die Fetzen zwischen den Brüdern. Also nie echte Fetzen, sondern nur ein bisschen Fell. Nie so richtig ernsthaft. Es war immer so, als ob es für sie unbedingt dazugehörte – denn genau so oft waren sie ganz nah beieinander, egal ob bei Ausflügen, beim Chillen, beim Essen, beim Quatsch machen. Poppins grundsätzlich der „Zoffer“, Hoppins immer der liebe, zurückhaltendere der beiden Jungs – aber trotzdem mit jeder Menge Pfeffer im Po und voller Energie.

Was dann am Nachmittag passierte, wissen wir nicht. Zum Abendessen und Ins-Bett-Bringen kam Hoppins nicht angehoppelt. Die erste Suche im Garten: erfolglos, aber das war absolut keine Seltenheit, denn ein blond-grauer plüschiger Zwerg zwischen Büschen und Bäumen und Ecken und Winkeln im Garten, noch dazu in fellfarbenem Herbstlaub, ist nicht gut auffindbar, wenn er nicht gefunden werden möchte.

Hoppins wollte nicht gefunden werden, hatte sich zurückgezogen in seinen „Lieblingsbunker“, ein Betonkonstrukt ein bisschen abseits im Garten. Er war nicht ansprechbar. Äußerlich ohne irgendwelche Anzeichen, sein Bauch dick und weich wie z.B. nach einer Darmperforation oder einem Riss eines Organs. Während wir ihn reintrugen und Notfallmedikamente gaben in der Hoffnung, es sei doch „nur“ eine Aufgasung wegen zu viel Herbstlaub, war Hoppins schon ein Hoppins, der nicht mehr da war. Ein paar Minuten später starb er kampflos, ohne dass wir noch irgendetwas für ihn hätten tun können.

Adieu, Hoppins.

Gertruhn Bruhnhilde

Sie war die letzte der drei Bruhnhilden: Gertruhn Bruhnhilde.

Die Rettung der drei Hühner erfolgte im Sommer 2023 in letzter Minute: Ihr alter Halter liebte und umsorgte die Hühner, solange er konnte. Doch als er krank wurde und sich nicht mehr um die drei kümmern konnte, wollte seine Frau sie schlachten. Einfach, weil sie sich nicht um die Hühner ihres kranken Mannes kümmern wollte. Zum Glück der drei Bruhnhilden hielten die Schwiegertochter und Enkel nichts von den Tötungsabsichten der Frau. Und retteten den Hühnern das Leben, indem sie sie ins Land der Tiere brachten.

Fast zwei Jahre hat Gertruhn hier in der großen Hühner-WG gelebt, die anderen beiden Bruhnhilden schon länger überlebt. Hier hat sie neue Freundschaften geschlossen, das große Hühnergehege ihr eigen genannt, unzählige Sand- und Sonnenbäder genommen, die besten Pflückstellen gefunden und war für jeden Unfug zu haben – wenn es ihr gut ging.

Gertruhns Zustand hat länger schon geschwankt. Wenn sie fit war, war sie ziemlich präsent. Unternahm Ausflüge mit ihren Freundinnen oder ging auf Tour, wenn ihr der Kopf nach Action stand. Sie kam oft angeflitzt, wenn Menschen in ihr Gehege kamen, stets neugierig, ob Äpfel öder Körner im Gepäck sind. Manchmal lauschte sie bei Führungen über die Geschichten der Hühner mit, manchmal untersuchte sie lieber selbst die Besuchenden.
Hin und wieder ging es ihr aber auch so schlecht, dass wir schon ihre letzten Tage vermuteten. Doch bis zuletzt hatte sie sich nach ein paar Tagen und diversen Medikamenten später wieder aufgerappelt und uns überrascht. Bis es dann doch nicht mehr ging.

Gertruhn litt wie alle Hühner unter den Folgen der Zucht auf eine hohe Legeleistung. Davon sind Hühner wie sie, die aus der Privathaltung kommen, genauso betroffen wie die Hühner aus der industriellen Haltung. Denn sie alle sollen viele Eier legen, zu viele, für ihre kleinen Körper unerträglich viele. Dieser angezüchtete „Legezwang“ greift die Gebärorgane enorm an und verhindert, dass die Hühner ein „normal“ langes, überhaupt ein „normales“ Leben führen können. Ihre Körper sind „alt“, obwohl sie es noch nicht sein sollten.

Gertruhn wurde viereinhalb Jahre alt. Am Ende war ihr Bauchraum voller Tumore. Sie wurde in der Tierarztpraxis eingeschläfert.

Adieu, „Gertruhn“ Bruhnhilde.

Kater Klaus

Kater Klaus hat sie geliebt, die Sonnenuntergänge am Tor. Und wir die Sonnenuntergänge mit ihm.

Die Sonnenuntergänge an dem Tor zum Land der Tiere, wo er vor zehn Jahren bei Sonnenaufgang ausgesetzt wurde. Als er „vom Himmel fiel“ dachten wir, okay, wir füttern ihn durch, kümmern uns, er bleibt oder geht wieder. Dass es dann wurde, wie es wurde, damit hat niemand gerechnet, außer vielleicht Klaus selbst: Es wurden zehn Jahre Glück daraus. Tiefe Verbundenheit. Viele Freundschaften, eine Menge Abenteuer und unfassbare Angst um ihn. Wegen der Abenteuer.

Als Klaus 2015 sozusagen „aus dem Nichts“ auftauchte, war das Land der Tiere noch ganz neu. Und er ein verängstigter, völlig unerfahrener, ungeschickter junger Kater. Kein „junger Wilder“ und auch kein Streuner aus der Gegend, sondern ein Jemand, der noch nie draußen war und selbst nicht wusste, wie er nun zu uns gekommen war. Er konnte nichts von dem, was ein Kater, der draußen überleben will, können muss. Nicht einmal auf einen Baum klettern. Von runter kaum zu reden.

Die einzige schlüssige Erklärung: An dem Tag, wo wir ihn das erste Mal sahen, war bei Sonnenaufgang ein Auto vorm Tor – und zu uns „verirrt“ sich niemand einfach so. Klaus wurde also wahrscheinlich einfach am Tor abgesetzt und verlassen. Schon sehr bald wussten wir: Das Beste, was passieren konnte.

Zum Glück funktionierte unsere Strategie, ihm stunden- und tagelang gut zuzureden und ihm sofort draußen Futter- und Schlafplätze einzurichten. Wildkameraüberwacht. Es funktionierte. Es hatte Hunger. Und war fast stündlich auf der Kamera. Wo er sein Lager aufgeschlagen hatte wussten wir erst nicht. Und dann kam der kleine Kerl morgens gähnend aus dem Schafstall. Zusammen mit seinen ersten Vertrauten: den Schafen. Eine Woche später, nach reichlich vorsichtigem Rumgerutsche auf dem Bauch in seiner Nähe konnten wir ihn anfassen.

Wahrscheinlich hat er schon da bei den Schafen seine Strategie entwickelt: wie er es schafft, im Lauf der Zeit zum „Chef vom Ganzen“ zu werden. Zu demjenigen, der Herdenschutzhunde als beste Freunde hat, der mit den Füßen in der Sahnetorte der Besucher*innen stehen darf und alle finden es wundervoll, zu demjenigen, der es entgegen aller Erwartungen schaffte, sich nicht nur in sämtliche Herzen, sondern auch ins Bett der menschlichen Chef*innenetage zu schleichen.

Klaus studierte. Alle und Alles. Beobachtete alle, egal ob Schaf, Hund, Kaninchen, Pute, Schildkröte oder Mensch, so lange, bis er alles wusste. Wann sich wer wie verhält, wann der Zeitpunkt da ist, zu vertrauen und Freundschaften zu schließen. Dabei nahm er auch Erziehungsmaßnahmen von Zwergkaninchen an, die ihn nach Strich und Faden vermöbelten und ihm Kaninchen-Grenzen zeigten. Er respektierte das. Und schloss im Lauf der Jahre viele Freundschaften mit Kaninchen. Vor allem bei Familie Ostermann tat er so, als sei er einer von ihnen. Phasenweise verlegte er sogar seinen Wohnsitz dorthin. Und lag einfach zusammen mit den Kaninchen in der Bude oder im Garten.

Sein größtes Studienprojekt waren nicht die Bäume. Die besiegte er irgendwann. Es war Zeus. 70 Kilo personifizierter Katzenhass. Alles, was Klaus bis dahin von Krätze, seiner uralten gebrechlichen kleinen Hundefreundin gelernt hatte, war auf den neuen Hund nicht anwendbar. Zeus wollte ihn töten. Ihn ohne Aufsicht draußen zu lassen, das ging nicht. Wir arbeiteten an dem Problem. Und Klaus studierte, während wir auf Zeus aufpassten. Bzw. auf Klausis Leben. Wochenlang. Dann geschah es, bei den Schafen. Klaus kam einfach über die Mauer auf Zeus zu. Der merklich die Luft anhielt. Wir noch mehr. Obwohl wir eigentlich wussten, dass wir den beiden jetzt vertrauen können. Klaus lief einfach auf den Riesenschädel von Zeus zu, senkte den Kopf und puderte sich einmal rundum in Zeuses Gesicht. Ab diesem Moment waren die beiden beste, unzertrennliche Freunde. Und Hundespaziergänge ohne Katerbegleitung nicht mehr normal.

Diese Taktik „wenn es so weit ist pudere ich dein Gesicht“ behielt Klaus bei. Nicht nur bei den nachfolgenden Hunden. Bei allen Tieren. Bei den Schweinen war er dann so weise, nicht so weit zu gehen. Studium sei Dank. Mit wem er das alles nicht nur im Land, sondern auch jenseits des Tores gemacht hat, haben wir uns oft gefragt. Manchmal kam er morgens bei Sonnenaufgang zusammen mit einem Reh oder Fuchs oder gefolgt von einem Hasen aus dem Feld. Ganz vertraut. Wir wetten, er hat es getan. Das mit dem Pudern. Und den Freundschaften.

Vielleicht waren auch diese oftmals der Grund dafür, dass Klaus regelmäßig verschwand. Einen Tag, zwei Tage, drei. Oder mehr. Spätestens ab Tag zwei waren wir voller Sorge. So viel kann einem Kater draußen passieren. Jedes Mal durchsuchten wir das ganze Land. Jeden Bunker, jede Ruine. Immer erfolglos. Irgendwann entstand die beruhigende Theorie, dass es noch uns unbekannte Bunker irgendwo in unseren Waldstücken geben muss. In denen der Herr Klaus nächtelang mit einer coolen Waschbärgang herumzockte. Um dann übermüdet und hungrig einfach irgendwann wieder im Menschenhaus aufzuschlagen und schnurrend ins Bett zu plumpsen. Wir jedes Mal überglücklich, ihn unversehrt wieder zu sehen.

Manchmal schlief er dann tagelang. Oder folgte Gewohnheiten. Immer pünktlich bei Sonnenaufgang nach Hause kommen und wie ein Waschbär am Fliegengitter des Küchenfensters hängen. Das ersparte ihm die Benutzung einer der Katzenklappen. Meist ging Klaus jedoch morgens ganz selbstverständlich nach einer Nacht im Bett mit zur Arbeit bei den Kleintieren. Kaninchen besuchen. Überall beim Rechten schauen. Danach mit den Hunden spazieren. Den Gästen auf dem Tisch herumtanzen und eine Sonntagsführung begleiten. Und dann abends noch mit auf eine Party. An manchen Tagen war es so, dass Klaus überall war. Gleichzeitig. Als ob es ihn mehrfach geben würde. Klaus, Klausi, Klausmann…

Heute wissen wir, dass es immer nur einer war. Zehn Jahre Angst, dass ihm etwas zustößt. Er mal den Falschen anpudert. In einem der Teiche ertrinkt. Er auf dem Feld erschossen wird. Sich verläuft und nie wiederkommt. Es gab unzählige Möglichkeiten, was alles hätte passieren können. Oft haben wir uns gefragt, wie viele Leben so ein Kater haben kann. Als wir ihn mit hohem Fieber wegen einer Fußverletzung fanden, er in den gefrorenen Ententeich eingebrochen war, er mit einem Riss im Bauch nach Hause kam, sich verlief und wir ihn nach einer Woche kilometerweit weg abholen konnten – usw.. Ein abenteuerlustiger Langzeitstudent ist eben unaufhaltbar.

Jetzt kam alles anders. Und wir waren machtloser als je zuvor. Was mit einer ausgekotzten Ratte anfing, mit einer schlimmen Magen-Darm-Infektion und unzähligen Tierarztbesuchen weiterging, endete mit einem Herzstillstand während einer annähernd chancenlosen Notoperation in der Tierklinik.

Niemand ist für immer. Aber jemand wie er bleibt für immer – in unseren Gedanken.

Adieu, Kater Klaus.