Eine Zeit lang gab es den Versuch. Jemand, der nicht Tanja ist, übernimmt die Betreuung von Gustav und seinen Mädels. Gänzlich gescheitert.
Gustav war so sauer und regte sich so auf, wenn jemand anderes sein Zimmer oder seinen Garten betrat, dass es so kam, wie er es wollte. Die Einzige, bei der er sich nicht aufregen musste, sie nicht aus dem Zimmer schmiss, nicht motzte, meckerte, ansprang und biss, wenn es ans Frühstück, das Abendessen, ans Putzen oder die Extra-Apfelportion zwischendurch ging, übernahm seine Versorgung. Für immer. Jeden Tag. Viele Jahre lang.
Als Gustav vor 7 Jahren im Alter von 6 Jahren einzog, sah er das noch nicht so eng. Er war unsicher. Eher schüchtern. Kein Wunder, denn er war ein trauriger, trauender Vogel, der alles verloren hatte, was sein Leben bis dahin war. Er landete nach einer Hofräumung zusammen mit seinem Gefährten, ob es Vater oder Bruder war, mit dem er sein ganzes Leben verbracht hatte, ist nicht überliefert, im Tierheim Süderstraße. Schlimm genug für ihn, aber es kam noch sehr viel schlimmer. Sein Gefährte starb kurz nach der Ankunft im Tierheim. Gustav war alleine.
Als wir von der Tierheimleiterin gefragt wurden, ob wir dem traurigen Gustav helfen können, war sofort klar: Gustav wird bei uns einziehen. Erste Idee: er zieht zu zwei „älteren“ weißen weiblichen Puten, die grade ihren Freund verloren hatten. Ihren Freund, grade mal etwas älter als zwei Jahre. Weiße, schwere, für die Putenmast gezüchteten Vögel, haben dann bereits so viele körperliche Probleme, dass sie „biologisch uralt sind“ und ihre Körper sich verabschieden, obwohl sie doch eigentlich noch so jung sind.
Gustav war schon über dreimal so alt, als er einzog. Aber von wegen „alt“: keine Spur davon. Ganz schnell war klar: er und die körperlich schon eingeschränkten weißen Putinnen, das wird nichts. Nicht weil sie sich nicht mochten, sie waren ihm und seinen „Liebesbeweisen“ einfach körperlich nicht gewachsen. Und nun? Kamen Gesa und Josefine ins Spiel. Die saßen grade als gezüchtete Vertreterinnen „aussterbender Rassen“ in einem „Nutztierpark“. In der „Küchenvoliere“, denn sie entsprachen nicht dem „Rassestandard“ und sollten aus diesem Grund geschlachtet werden. Wurden sie nicht. Wir holten sie – zu Gustav.
Und es wurde gut. Gustav schwankte zwischen „väterlicher Freund“ und „Lover“. Hat beides unter einen Hut gekriegt. War fürsorglich in allen Situationen. Hat sich für seine Mädels mit Autos duelliert, in denen er sein Spiegelbild sah und „den anderen“ besiegte. Seine Mädels waren immer fein mit ihm – meistens. Wenn Gesa sich über die Zäune abmachte, um mal die anderen Puter im Land zu besuchen, haben wir immer nur gehofft, niemand verrät das Gustav. Den Rüffel dafür bekam sie nie von ihm – sondern von ihrer Freundin Josefine, wenn sie wieder nach Hause kam.
Irgendwann zogen dann noch Sprotte, eine Zwerghenne, und Fräulein Schmittlauch, Odette und Monique, drei weiße „Mast-Zucht-Putinnen“, zu den dreien. Gustav hatte alles im Griff, war ihr Vertrauter, der aufgrund seines mittlerweile hohen Alters und reifer Erfahrenheit auch keine „Sexunfälle“ mehr verursachte. Und Sprotte, die Zwerghenne, hatte noch mehr alles im Griff. Auch den „knödeligen“ Gustav. Wenn ihm jemand klar die Meinung sagen durfte, dann Sprotte. Oder die Zwergkaninchen. Die Putendamen hatten das gar nicht nötig – und liebten ihren Gustav genau so, wie er war.
Vor allem die verschrobene alte Odette, die zu Menschen ein ähnlich wählerisches Verhältnis hat. Wenn Gustav sich für die Nacht neben Monique ins Strohbett kuschelte, fand Odette immer noch ein Plätzchen an seiner anderen Seite. Ganz nah schliefen sie immer zusammen. Auch an Gustavs letztem Tag.
Gustav war mittlerweile 13 Jahre alt. 13! Und natürlich war das Altern nicht ganz spurlos an ihm vorbeigezogen. Irgendwann begann es, dass seine alte Hüfte anfing, Probleme zu machen. Täglichen Schmerzmittelgaben sei Dank hat ihn das aber nie von irgendetwas abgehalten und er drehte stolz seine Runden durch seinen Garten. Und schmiss die Leute raus, die er da nicht sehen wollte. Das ging tatsächlich bis zum Ende so, wo sein alter Körper anfing, sich zu verabschieden.
Als Tanja ihm das letzte Abendessen und seine Medikamente brachte, war klar, dass es sein Letztes sein würde. Für seinen endgültigen Abschied nach einer Nacht eingebettet zwischen Odette und Monique und unter Sprottes Aufsicht wartete er bis zum nächsten Morgen, bis auch seine einzige menschliche Vertraute wieder da war.
Adieu, Gustav.
21. Oktober 2025



