Abschied von Frau Lehmann: unmittelbar vor den Tag, der ihr zweiter Rettungstag gewesen wäre.
Eier. Eier legen, dafür wurde sie gezüchtet. Dafür sollte sie nach einem Jahr des Legens geschlachtet werden: weil sie körperlich am Ende ihrer Kräfte war vom vielen Eierlegen. „Ganz normal“. Wird einfach so hingenommen, dass Jahr für Jahr viele Millionen „Legehennen“ wie sie verbraucht werden, leiden, sterben.
Als die Lehmanns genau zwei Jahre zuvor ins Land der Tiere kamen, waren sie zerfledderte, traurige, fast nackte, kranke Hühner, die über ein Jahr lang in Käfighaltung gelitten hatten. Und „normalerweise“ im Schlachthof geendet wären. Zu sechst kamen sie, alle mit großen gesundheitlichen Problemen. So großen Problemen, dass wir nicht einmal davon ausgehen könnten, dass sie die Zeit, wo sie endlich nach draußen gehen können würden, überhaupt noch erleben.
Alle Lehmanns bekamen einen bunten Ring um ein Bein, bis auf eine. So viele verschiedene Farben hatten wir nämlich nicht. Frau Lehmann ohne Ring war von Anfang eine der kritischsten Patientinnen. Sie erlebte die Zeit, wo alle Lehmanns endlich nach draußen konnten. Endlich mit Himmel über dem Kopf herumspazieren, die Sonne auf den langsam wachsenden Federchen spüren, Sandbäder nehmen, unter Bäumen herumscharren und danach an einem schönen Fleckchen ein Mittagsschläfchen machen konnten. Anhand ihrer Ringe konnten wir auch von der Ferne beobachten, wie es allen ging, welche Patientin grade besonderer Aufmerksamkeit bedurfte.
Frau Lehmann ohne Ring hatte immer wieder gute und schlechte Phasen. Litt unter anderem unter „Legedarmproblemen“, Schichteiern, anderen Krankheiten, die sie der Tatsache zu verdanken hatte, als „Turbolegehenne“ gezüchtet worden zu sein. Irgendwie schaffte sie es immer mit medizinischer Hilfe, sich doch wieder zu erholen. Mehrfach überlegten wir, sie einschläfern zu lassen in schlechten Phasen. Aber dann zeigte sie wieder klar: es ist noch nicht so weit. Und nahm sich wieder eine kleine gute Zeit mit.
Diesmal hatte sie keine Chance mehr. Das einzige, was wir noch für sie tun konnten, war ein friedlicher Abschied in der Tierarztpraxis.
Adieu, Frau Lehmann ohne Ring.