Wir wurden ein bisschen die Mütter, die sie nie hatten.

Sechs flauschige, winzige, piepsende, Vögelchen, die eigentlich unter den schützenden Flügel ihrer echten Mütter gehört hätten. Die hatten sie jedoch nie – also nie kennengelernt. Stattdessen saßen sie in dieser Mastanlage, um möglichst schnell dick zu werden. Todgeweihte Babys.

Denn eigentlich wurden sie „als Masthühner produziert“. Ihr Leben begann im Februar 2020 im Brutschrank einer Brüterei. 700 Millionen Küken werden so pro Jahr in Deutschland ausgebrütet und nach dem Schlüpfen in riesengroße Mastanlagen mit durchschnittlich 41.000 Hühnerküken „eingestallt“ und gemästet. Als Masthühner wären sie nach 29-42 Tagen Existenz geschlachtet worden – also noch als Babys. Masthühner wiegen dann bereits bis zu zweieinhalb Kilo, falls sie die Mast und ihr immenses Wachstum überhaupt überlebt haben.

Greta, Giesela und die anderen vier Wiesengrüns waren gerade ein paar Tage alt, als wir sie kennenlernten. Zufällig ausgewählte Wesen aus einer unfassbaren Masse tausender laut piepsender, ängstlicher Küken. Sechs aus 41.000, die das unwahrscheinliche Glück, nach ein paar Tagen die Mastanlage verlassen zu können – um das zu erleben, was für Tiere wie sie nicht vorgesehen ist: einfach ein echtes, glückliches Hühnerleben bis ans natürliche Ende ihrer Tage zu haben. Durch grüne Wiesen laufen, in der Sonne liegen, Sandbäder nehmen, herumscharren, entdecken können, Freundschaften zu schließen, erwachsen zu werden.

Wir wurden ein bisschen die Mütter, die sie nie hatten. Schon als Winzlinge mochten sie es, auf unseren Beinen und Schultern herumzusitzen. Kamen auf Zuruf. Genossen Streicheleinheiten. Waren neugierig, voller Vertrauen, Tatendrang und Lust, zu leben. Wir freuten uns über jeden Quatsch, den sie machten, über alles, was sie lernten, was sie genossen und waren glücklich, ihnen beim Erwachsenwerden zuschauen zu dürfen. Waren überglücklich, dass keines der Küken früh an den Folgen der „Mastgenetik“ starb.

Aus den winzigen Küken wurden zwei Mädels und vier Jungs. Mit dem Erwachsenwerden zogen aufgrund von „Jungsstreitigkeiten“ drei der vier Wiesengrünherren zu Pute Emily und Familie Dr. Hasenbein um. Die Mädels blieben mit ihrem „Lieblingshahn“ zusammen. Leider auch nicht für immer, weil er mit zunehmendem Alter und Wachstum so schwer wurde, dass seine „Liebesdienste“ an den Damen nicht mehr verletzungsfrei blieben. Nach einem weiteren Umzug, weiteren Hahnenstreitigkeiten, die damit endeten, dass wir alle Hähne voneinander trennen mussten, landeten dann letztendlich die Damen Wiesengrün bei Emily und Hasenbeins.

Es sollte ihr letzter Umzug werden. Lange lebte die gemischte Gruppe fröhlich und friedlich zusammen in der Alten Wache. Aßen Klee um die Wette, teilten ihre Äpfel und Möhren, gingen viel spazieren. Untereinander waren Greta & Giesela immer das, was man „ein Herz und eine Seele“ nennt und immer zusammen unterwegs. Und dann erwischte es Giesela, einfach so beim Spazierengehen. Völlig unvorbereitet, ohne Vorwarnung durch Krankheit, starb Giesela. „Eines natürlichen Todes“, könnte man sagen, sofern es für ein Huhn „natürlich“ wäre, nicht einmal drei Jahre alt zu werden.

Für Hühner wie die Wiesengrüns, auf maximale „Mastleistung“ gezüchtet, sind knappe drei Jahre Lebenserwartung jedoch sehr viel mehr, als wir bei ihrem Einzug zu hoffen gewagt hatten. Die meisten dieser Hühner sterben viel früher. Ihre Knochen versagen – und wenn nicht die, dann ihr Herz-Kreislaufsystem. Plötzliche Todesfälle wie z.B. durch geplatzte Schlagadern sind leider bei solchen „Mast“-Hühnern „normal“.
Greta trauerte. Sie ohne Giesela, irgendwie ging es überhaupt nicht. Nach ein paar Tagen waren wir so froh, dass sie endlich wieder unternehmungslustig wurde, sich mit Hasenbeins herumtrieb, spazieren ging, herumscharrte. So wie an diesem Mittag, ganz fleißig, auf der Suche nach was auch immer ein Huhn sucht im Boden. Nachmittags ging Greta dann Richtung Wache, Richtung Abendessen und Bett. Sie fiel einfach an der Hausecke um und starb, bevor sie ihr Ziel erreichte.

Zwei, die „genetisch gleich“ waren. Zwei beste Freundinnen. Auch unsere.

Adieu, Mädels.

Schwein Pauline im Land der Tiere, einem Lebenshof für ehemalige "Nutztiere" in Mecklenburg-Vorpommern, idyllisch gelegen im Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe zwischen Hamburg und Berlin

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