Abschied von Don Krawallo Wiesengrün

„Pass auf und nimm besser einen Eimer mit, wenn du zu ihm reingehst.“

Wenn er eines perfekt konnte, dann die naive Theorie von der Dankbarkeit geretteter Tiere ihren Retter*innen gegenüber widerlegen. Dass er den Namen Don Krawallo verpasst bekam, war der Tatsache geschuldet, dass er die meisten Menschen – auch sein aufopferndes Dienstpersonal – ohne Wenn und Aber aus seinem Revier verjagte, Füße, Flügel und Schnabel voraus. Die aufgrund von ständigem Kontakt mit ihm ganz Vertrauten schafften es unter Zuhilfenahme eines unauffälligen Eimers, immer bedacht positioniert zwischen ihm und den eigenen Beinen, zweieinhalb Jahre lang mit ihm zusammenzuleben und zu arbeiten, ohne von ihm gebissen zu werden. Was nicht heißt, dass es von seiner Seite aus jemals „Liebe“ gewesen wäre. Maximal so etwas wie Akzeptanz konnten man von ihm erwarten. Sein gutes Recht.

Am Tag, als wir ihn kennenlernten, war er noch ein winziges, flaumiges Küken. Hilflos. Zusammen mit fünf anderen Küken wurde er aus einer Mastanlage gerettet. Maximal 42 Tage bis zum Schlachttag stand ihm und den anderen Küken bevor. Sechs Küken, zufällig „ausgewählt“ aus einer Menge von Tausenden piepsenden Küken, die alle nie die Chance hatten auf ein Leben. Auf Familie und Freundschaften. Freiheit. Grüne Wiese. Die sechs zufällig Geretteten bekamen den Namen „Die Wiesengrüns“.

Die Wahrscheinlichkeit, dass alle sechs erwachsen werden, war gering. Die Mastgenetik mit den überschweren Körpern und Turbowachstum bringt schon viele Millionen Masthühner und –Hähne in den ersten Lebenswochen um. Die Beine versagen, sie fallen auf den Rücken und ersticken, sterben an Herz-Kreislauf-Problemen, liegen sich wund, sterben an Infektionen. Nicht die Wiesengrüns. Alle sechs überlebten die erste kritische Zeit. Aus den Küken wurden vier Hähne, zwei Hennen. Ungefähr Statistik eben.

Krawallo war der erste der Hähne, der anfing zu streiten. Während die anderen drei noch „ein Herz und eine Seele“ waren, krawallte er herum und stritt. Die drei anderen zogen in ein anderes Gehege um, Krawallo hatte allen Grund, sehr glücklich zu sein: die Wiesengrün-Mädels blieben nämlich bei ihm. Er machte alles, was ein Hahn tun muss und lebte lange Zeit glücklich mit seinen Mädels zusammen.

Es tat uns unendlich leid, dass wir ihm irgendwann die beiden Damen entführen mussten. Es gab keine Alternative. Nach vielen Versuchen und Maßnahmen, seine Liebesdienste an den Damen Wiesengrün für diese verletzungsfrei hinzubekommen, kapitulierten wir irgendwann. Weder Krallenschleifen noch gepolsterte Fußverbände an Krawallo, die er stolz herumtrug und eine Zeit lang eine sehr erfolgreiche Lösung waren, konnten am Ende Verletzungen an den Hennen, die er ihnen ohne böse Absicht beim Besteigen zufügte, verhindern. Sein schwerer Mastkörper war der Auslöser des Problems.

Krawallo blieben also nur noch seine Puten. Und die täglichen Flirts durch den Zaun mit den Nachbarinnen, einer kleinen bunten Hennengruppe – Hennen, zu denen wir ihn nie dazu lassen konnten. Seine vielen Kilos Körpergewicht hätten sie getötet, wenn er hätte tun können, was ein Hahn eben tut. Mit den Puten, egal ob Hennen oder Hähnen, war Krawallo immer gänzlich unkrawallig. Eher so ein kleinerer toller Beschützer, der immer bei ihnen war. Und einer von ihnen. Nachts neben ihnen, die in ihrem großen Strohbett schliefen, ganz dicht dabei auf einem Baumstamm mit erhöhter Aussicht.

Die vergangenen Wochen schlief Krawallo zusammen mit Pute Lotta in einer kleinen Hundehütte im Putenzimmer. Weil Lotta sich diese als Nest eingerichtet hat. Dass er zu so zärtlichem Verhalten fähig war, viele Menschen, die von ihm gemobbt und angegriffen wurden, hätten es wahrscheinlich nicht für möglich gehalten, dass es auch einen gänzlich unkrawalligen, äußerst liebevollen Krawallo gibt.

Jetzt liegt seine Lotta alleine in ihrem Nest. Krawallo starb einfach in der Nacht, ohne spezielle Vorankündigung, nach zweieinhalb Jahren Leben im Land der Tiere. Bereits seit geraumer Zeit hatte er Herz-Kreislauf-Probleme, ein typisches Problem der schweren „Mast“-Hähne. Jemand wie er, gezüchtet in einen Körper, der keine lange Lebensdauer zulässt, ist mit zweieinhalb Jahren „biologisch uralt“. Zweieinhalb Jahre Zeit, zu sein, wer er war, ohne jemals ernsthaft krank oder krawallunfähig zu sein. Ob Lotta ihn vermisst? Ist wahrscheinlich wirklich keine Frage: natürlich.

Adieu, Don Krawallo Wiesengrün.

Abschied von Noa

Wo die Schildkröten, die im Land der Tiere leben, herkommen, das ist eine der häufigen Fragen von Besucherinnen und Besuchern. Wie alt sie sind, wie alt sie werden.

An dem Tag fragte jemand, ob Schildkröten auch sterben. Ob wir uns erinnern könnten an eine im Land der Tiere verstorbene Schildkröte. Es war der Tag, an dem wir Noa abends reglos in ihrem Schlafhaus fanden. Noa war gestorben, genauso unauffällig wie die ganze Noa war, weil sie menschliche Nähe immer vermied.

Noa lebte fast 40 Jahre in einem kleinen Dorf in Mecklenburg bei zwei verschiedenen Haltern, bevor sie ins Land der Tiere einzog. Was davor war, wo sie herkam und wie dort hingelangte, weiß niemand. Und so blieb auch ihr Alter ein Geheimnis. Noas Panzer hatte viele Spuren der Vergangenheit. Abschürfungen, Verletzungen, die von einem langen Leben zeugten. Wie lange sie durchs Leben lief, ob es 40 oder 100 Jahre waren, ob sie als kleines Schildkrötchen oder alte Dame nach Mecklenburg kam, „Nachzucht“ war oder in ihrer Heimat eingefangen wurde, um als Haustier benutzt zu werden? Scheu und wild, wie wir sie trotz der langen Gefangenschaft als „Haustier“ kennenlernten, gehen wir von Letzterem aus. Gut, dass ihr immerhin noch eine sonnige Zeit außerhalb eines Terrariums und Mini“geheges“ blieb für die letzten Jahre ihres langen Lebens, welches sie sicherlich lieber in Freiheit verbracht hätte.

Adieu, Noa.

Abschied von Matrix

Kein „Apparat“: Ihr Name war Matrix.

„Legeapparat“ nennen viele Menschen die für die Bildung und das Legen von Eiern zuständigen Organe beim Huhn. Dabei vergisst sich leicht, dass es tatsächlich nicht um „Apparate“ handelt, welche Eier produzieren, sondern um die hochempfindlichen Organe eines Huhnes.
Und um ein Huhn, welches enorm darunter leidet, wenn diese Organe durch die enorme Anzahl von Eiern, die sich in seinem Körper bilden, krank werden. Vereitern. Sich Schichteier bilden. Bis das Huhn einen so mit Eiter und Eierteilen gefüllten Bauch hat, dass es nicht mehr stehen kann. Bauchwassersucht, Tumore und andere Probleme kommen dann oft noch hinzu, das Huhn magert ab, versucht von allem sich nichts anmerken zu lassen, bis nichts mehr geht und es stirbt. Die meisten „Legehennen“ sterben an diesem Problem. Selbst als „Hobbyrassehühner“ gezüchtete Hühner sind heute genetisch so „optimiert“, dass sie Unmengen von Eiern legen: 250 in einem Jahr. Ein ursprüngliches Huhn legt ca. 25 Eier im Jahr. Die zehnfache „Legeleistung“ belastet die Hennen stark – ihre Körper können das nicht dauerhaft schaffen.

Matrix war eins von 2000 aussortierten Hühnern, die Ende Mai 2019 aus einer großen „Elterntierhaltung“ gerettet werden konnten. Ihr Leben bis dahin: Kein Auslauf, Bodenhaltung, kein Glück. Anderthalb Jahre lebte sie dort, ihr psychischer und physischer Zustand war furchtbar, als sie zu uns kam. Sie war für die weitere Bruteierproduktion – aus ihren Eiern wurden „Legehennen“ erbrütet für den „Lebensgeflügelhandel“ – wertlos und normalerweise wäre sie durch Schlachtung entsorgt worden.

Drei Jahre blieben Matrix noch, Huhn zu sein, eins, das draußen herumlaufen, sich den Wind durchs Gefieder wehen lassen konnte. Um in Sand und Sonne zu baden, in einer kleinen Hühnergruppe ein idyllisches Hühnerleben zu führen. Als es ihr nun nicht gut ging, hatten wir Hoffnung, ihr noch ein bisschen mehr Zeit verschaffen zu können, doch die tierärztliche Behandlung mit Antibiotika und Hormonen brachte leider keinen Erfolg. Matrix blieben nur noch ein paar Tage, dann schlief sie für immer ein.

Adieu, Matrix.

Abschied von Linus

Irgendwann an einem Sonntag im September 2016 stand dann eine kleine Holzhütte vorm Tor. Von dem Auto, welches sie „anlieferte“, sahen wir noch die Rücklichter. Es war der Sonntag, an dem Linus seinen Ort zum Leben im Land der Tiere fand, denn in der abgestellten Hütte hockten zwei Kaninchen: Linus und seine Freundin Lilli. Für die beiden ausgesetzten Kaninchen wahrscheinlich das Beste, was ihnen passieren konnte.

Ob die Kaninchen vorher jemals etwas außer den vier furchtbaren engen Wänden einer Holzhütte kennengelernt hatten, in der sie sich weder richtig ausstrecken, noch aufrichten noch überhaupt irgendetwas tun konnten außer herumsitzen? Wie lange ihr Leben so war? Sie tauschten es gegen eins mit allem, was zu einem Kaninchenleben dazu gehört: Hoppeln, Rennen, Buddeln, Mümmeln, Chillen, Kuscheln. So frei und entspannt wie möglich und natürlich als Freilaufkaninchen.

Linus und seine Freundin pflegten eine unglaublich enge Beziehung. Verbrachten alle Zeit miteinander, viel davon mit Kuscheln und gegenseitigem Putzen. Vier Jahre lebten sie noch zu zweit miteinander, und wie tief ihre Beziehung war und wie liebevoll Linus, wussten wir spätestens, als Lilli beim Älterwerden körperlich abbaute. Über Monate hinweg kümmerte sich Linus um sie, die nicht mehr sehr mobil war. Als ihr Rücken nicht einmal mehr zuließ, dass sie entspannt sitzen konnte, war Linus wortwörtlich ihre Stütze. Legte sich so neben sie, dass sie nicht hinfiel, essen konnte, es bequem hatte. Statt herumzuhoppeln war er dort, wo er sein wollte: an ihrer Seite.

Was für Linus der Tod seiner Freundin bedeutete, konnten wir nur ahnen. Irgendwie verlor er sein Ziel. Er und Lilli hatten sich trotz diverser Vergesellschaftungsversuche all die Jahre gegen das Zusammenleben mit anderen Kaninchen ausgesprochen. Vielleicht, weil sie sich selbst genug waren. Nach Lillis Tod war dann alles anders. Linus wurde „Gruppenkaninchen“. Seine ersten neuen Freundinnen und Freunde teilten alle dasselbe Schicksal: Sie waren alleine, weil zuvor das Kaninchen starb, mit dem sie zusammenlebten. Alle waren bis dahin „unverträglich“. Aus Linus und den anderen Witwern und Witwen wurde eine wundervolle Truppe: ein einziger großer Kuschelhaufen.

Von diesen bleib ein Kaninchen bis zu seinem letzten Tag als bester Freund an seiner Seite. Auch als Linus immer dementer wurde. Kranker wurde. Körperlich abbaute. Linus ertrug alle Behandlungen. Monatelang hat niemand die Hoffnung aufgegeben, weil Linus sich nicht aufgab und trotz allem sein Leben genoss, aber seine schlechten Phasen wurden länger, die guten Zeiten dazwischen kürzer. Linus hat in den vergangenen Wochen merklich abgebaut. Sein Alter, seine Krankheiten, irgendwann musste es so weit sein, dass niemand ihm mehr würde helfen können. Auch nicht sein kleiner Freund Alf, der bei ihm war und ihn bekuschelte an seinem letzten Tag.

Adieu, Linus.

Abschied von Kurti

Die Frage, ob es überhaupt Sinn macht, Tiere wie Kurti zu retten, hat Kurti eindeutig beantwortet. Dreieinhalb Jahre lang, die Kurti voller Mut auf einem Bein durchs Grün hüpfte und nicht ans Aufgeben dachte. An keinem Tag.
Außer an seinen letzten Tagen.

Kurti kam als noch ganz junger Vogel zu uns, mit irreparablem Beinschaden. Kurti und seine Geschwister Lotta und Sputnik wurden als „Mastputen“ gezüchtet. Die ersten vier Monate ihres Lebens führten sie wortwörtlich ein beschissenes Leben in Matsch und Kot, wurden mangelhaft versorgt. Dass sie im Dezember 2018 dieses Leben gegen ein echtes eintauschen konnten und an einen Ort ziehen, wo niemand jemals beabsichtigt, sie zu schlachten, haben sie Menschen zu verdanken, die sie retteten, als ihr Besitzer starb und der Hof, wo sie lebten, aufgelöst wurde. Und den Menschen, die mithelfen, dass es Orte wie das Land der Tiere gibt, wo ehemalige „Nutztiere“ einfach in Frieden leben können.

Viele der Tiere, die ihren Weg zu uns finden, haben leider auch große körperliche Probleme – die meist „menschgemacht“ sind. Sie wurden gezüchtet, um möglichst „nützlich“ zu sein. Ihre körperliche Fitness und eine möglichst lange Lebenserwartung blieben dabei auf der Strecke, sind zu groß, zu schwer, „kaputtgezüchtet“. Wie bei „Sorgenvogel“ Kurti. Kurti – er konnte von Anfang an eines seiner Beine aufgrund einer zuchtbedingten, irreparablen Fehlstellung nicht wirklich benutzen.

Kurtis schlimmes Bein wurde während er wuchs und schwerer wurde schlimmer und schlimmer, bis er es gar nicht mehr benutzen konnte. Bei jeder Verschlechterung brauchte Kurti nur wenige Tage, um wieder eine Lösung zu finden, trotz allem mobil zu bleiben. Er entwickelte immer neue Strategien, klarzukommen – und hüpfte auf einem Bein durchs Leben. Machte das so großartig, dass es fast beschämend war, ihn zu sehen, mit seinem menschgemachten Problem.

Kurti meisterte sein Leben fantastisch. Zeigte uns dreieinhalb Jahre lang jeden Tag, wie groß trotz allem seine Lust aufs Leben war. Nur seiner positiven Lebenseinstellung hat er zu verdanken, dass er mit seinem Körper vier Jahre alt werden konnte. Dass der Tag so spät kommt, an dem Kurti nicht mehr in der Lage sein würde, sein Problem zu besiegen, hätte niemand zu hoffen gewagt. Der Tag, an dem er seinen Mut verlieren würde, weil er keine Strategie mehr fand und er merkte: es gab keine Möglichkeit mehr, zu tun, was er wollte. Draußen sein, frei sein, sich bewegen. Nie wieder.

Gar nicht mehr mobil zu sein war unerträglich für ihn. Das Einzige, was wir noch für ihn tun konnten, war ihn einschläfern zu lassen.

Adieu, Kurti.

Abschied von Sputnik

Als Sputnik kurz vor Weihnachten 2018 zusammen mit seinen beiden Geschwistern Lotta und Kurti ins Land der Tiere einzog, war er vielleicht vier Monate alt. Bis dahin hatte er alles andere als ein schönes Leben, wurde sehr schlecht versorgt, lebte in Matsch und Kot. Angeschafft wurden Sputnik, Lotta und Kurti als Mastputen. Ihr Glück war, dass der Tod ihres Besitzers den Weg frei machte für ihr Leben.

Sputnik, Lotta und Kurti ging es sehr schlecht, als sie zu uns kamen, alle waren mangelernährt, hatten Wachstumsprobleme, Sputnik eine Beinfehlstellung und X-Beine, aber zum Glück hatte es ihn nicht so schlimm erwischt wie seinen Bruder, der von Anfang an nur ein funktionierendes Bein hatte. Zudem litten sie unter Durchfall aufgrund eines Befalls mit einzelligen Parasiten und Darmpilz. Wie glücklich sie waren, als sie ihr Krankenzimmer gegen ein Zimmer mit Garten und Auslauf tauschen konnten!

Sputnik hatte das enorme Glück, dass seine Beinfehlstellung sich im Laufe der folgenden Wochen „auswuchs“ und er ohne Beeinträchtigung durchs Grün laufen konnte. Lediglich zwei Zehen mit Fehlstellungen aufgrund von zuchtbedingten Sehnenproblemen behielt er zurück. Dass er als schwerer Bronceputer dreieinhalb Jahre leben, laufen und mit seinen Geschwistern zusammen sein können würde, hätten wir nicht zu hoffen gewagt. Nicht unbedingt wegen Sputniks Zustand, sondern weil es unmöglich schien, dass Kurti so lange lebt

Kurti, der „Einbeinige“, trotz großer Einschränkung gutgelaunte, zufriedene und draußen liegend zwitschernde Bruder, hat Sputnik überlebt. Sputnik, den selbstbewussten, kernigen Bruder. Seit einigen Monaten wurde das Sehnenproblem an Sputniks Füßen unübersehbar größer. Irreparabel, inoperabel. Sputnik „prollte“ trotzdem draußen herum. Bis es dann so weit war, dass das Laufen mühsamer wurde. Sputnik kam mit der Situation, nicht zu können, wie er doch wollte, gar nicht zurecht. Er war nie wie Kurti, der sich bei jeder Verschlechterung seines Laufvermögens wieder etwas Neues ausdachte, klarzukommen und beweglich zu bleiben.

Sputnik kapitulierte vor dem Zustand seines Körpers, der ihn nicht mehr frei sein ließ. Der Tag, an dem er nicht mehr aufstehen konnte, war der letzte seines Lebens. Ihn derart verzweifelt zu sehen, in einem Zustand wo ihm klar war, dass es keine Hoffnung mehr gibt, noch einmal mit seinen Geschwistern durchs Grün zu laufen, ließ keinen Raum für andere Überlegungen als ihm Weiteres, was er nicht wollte, zu ersparen. Sputnik starb so sanft und sofern „Gutes Sterben“ möglich ist in der Tierarztpraxis. Sein Bruder wird wahrscheinlich nicht lange ohne ihn auskommen müssen. Kurti wird Sputnik bald folgen. Wie Sputnik wird er uns sagen, wann es so weit ist.

Adieu, Sputnik.

Abschied von Leonore

Leonores Geschichte ist eine für Menschen, die mit Kaninchen zusammenleben – und eine für Tierärztinnen und Tierärzte.

Als Leonore vor einigen Monaten ins Land der Tiere einzog, war ihr Ernährungszustand katastrophal. Sie war Haut und Knochen, aber munter und aktiv. Ihre Zähne zum Teil viel zu lang gewachsen, um vernünftig Nahrung zu sich nehmen zu können. Ihr Gesicht auf einer Seite dick, so dachten wir, vermuteten aufgrund der Zahnprobleme einen Abszess. Leonore aß, alles was wir ihr „Kleines“ anboten. Unmengen. Die Zähne wurden unter Narkose korrigiert. Es gab keinen Abszess in der „dicken Backe“. Sehr erfreulich, dachten wir. Leonore aß, war munter, legte ordentlich an Gewicht zu, hoppelte draußen mit den anderen Kaninchen herum, kuschelte, war unauffällig.

In der Tierarztpraxis hatte nach der Zahnkorrektur niemand hinterfragt, warum es schief war. Und wir kamen erst drauf, als alles zu spät war. Heute wissen wir, dass wir wahrscheinlich von Anfang an keine Chance hatten, sie zu retten, auch weil es nicht das einzige große Problem war, das sie herumtrug.

Leonore ging es von einem auf den anderen Tag extrem schlecht. Sie hatte körperlich abgebaut in den Tagen zuvor, nicht so großen Appetit wie sonst, schien aber „normal fit“. An diesem Morgen ging dann nichts mehr. Sie kam nicht beim Rauslassen an die Tür gelaufen, um sich ihren gewohnten Frühstückskeks abzuholen. Sie lag in ihrem Haus, konnte nicht stehen. Nicht essen. War schon nicht mehr ganz da. Leonore lag im Sterben. Jemand von uns fuhr mit ihr zur Tierarztpraxis, um ihr einen längeren Weg in den Tod zu ersparen.

Die Tierärztin dort hatte jedoch eine ganz andere Idee. „Inspiriert“ vom schiefen Gesicht Leonores, die sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, stellte sie eine Sicht-Diagnose. „Mit sehr guter Prognose.“ Das Tier habe E.C., da gäbe es doch beste Aussichten bei Behandlung mit einem Wurmmittel. Welches sie prompt eintütete und die sterbende Leonore wieder nach Hause schickte.

Dann lag Leonore wieder hier. So „hoffnungsvoll“ die Tierärztin, so klar war uns: Leonores Problem ist nicht E.C.. Und sie wird sterben, egal was wir tun. In diesem Moment mit ihr kam viel zu spät plötzlich die sichere Vermutung, endlich die Antwort auf die Frage nach der Ursache von Leonores Problem mit dem schiefen Gesicht gefunden zu haben: Leonores Ohr. Niemand hatte bislang überlegt, ob ein schmerzhaftes, von außen nicht sichtbares Ohrenproblem hinter ihrem schiefen Gesicht stecken könnte. Ob nicht eine Backe dick war, sondern die „dünne“ andere vor Dauerschmerz und Entzündung hochgezogen. Dazu passte die ungleichmäßige Zahnabnutzung. Und ihre Probleme mit räumlichem Sehen.

Wir kontaktierten wieder die Tierarztpraxis. Dass wir kommen, um Leonore einschläfern zu lassen. Die Antwort war recht unkooperativ „…aber es gibt doch eine gute Prognose bei E.C.-Kaninchen“. Ja, bei E.C.- Kaninchen, manchmal. Aber doch nicht bei Leonore, die nicht mehr ansprechbar war. Nach wahrscheinlich sehr langer, schwerer Krankheit nun noch unnötig lange gelitten hatte, weil in der Praxis ihr Sterbensprozess als „Krankheit mit guter Prognose“ gedeutet wurde.

Leonore wurde dann endlich eingeschläfert.

Heute wissen wir, es gab wirklich keine Chance, Leonore zu retten. Auch nicht, wenn jemand früher auf die Idee gekommen wäre, dass ihr Innenohr voller Eiter ist. Seit Monaten, Jahren? Die Untersuchung in der Pathologie, die wir beauftragten, bestätigte die Mittelohrentzündung mit hochgradiger Eiterfüllung. Es war längst nicht alles, was Leonore ertragen hatte, bis kurz vor ihrem Tod damit herumhoppelte, ohne sich etwas anmerken zu lassen: Gebärmutterkarzinome, Leberentzündung, Lungenentzündung mit Einlagerung von Pflanzenmaterial. Alles zusammen war ihr Tod.

Vielleicht kann ihre Geschichte anderen Kaninchen helfen und vor fehlenden und Fehldiagnosen bewahren.

Adieu, Leonore.

(*E.C., Encephalitozoon Cuniculi: Eine parasitäre Erkrankung, die das Nervensystem bisweilen so angreift, dass Kaninchen Kopfverdrehungen aufweisen, je nach Schwere nicht in der Lage sind, geradeaus zu laufen. Diese Schiefhaltung jedoch ist nicht zu verwechseln mit einer „Gesichtsverzerrung“, Gleichgewichtsstörungen und anderen Schiefhaltungen, verursacht z.B. durch Ohrentzündungen oder Zahn- und Kieferprobleme.)

Abschied von Bibo

Seit wir die Rettung, das Leben und das Sterben der ersten sechszehn „Mast“-Puter, die als Küken ins Land der Tiere einzogen, begleitet haben, ist da ein Haufen Liebe, ein Haufen Trauer – und keine kleine Illusion übrig, dass Tiere wie sie mit uns alt werden können.

Bei jedem einzelnen hofften und hoffen wir, mehr Lebenszeit für ihn herausschlagen zu können. Den Zeitpunkt hinauszögern zu können, wo der schwere Riesenkörper zusammenbricht, dessen Brust für die maximale „Fleischausbeute“ so hingezüchtet wurde, dass sie ein Drittel des Vogelgewichtes ausmacht. Ein monströser Brustmuskel, der 10 Kilo wiegt und den Körper zwangsläufig nach unten und vorne zieht, bis Beine und Hüfte unter seiner Schwere kapitulieren. Dazu jede Menge organische Probleme infolge genetischer „Fettleibigkeit“.

Die Hälfte der sechszehn Jungs beerdigten wir, bevor sie ein Jahr alt waren. Ein einziger wurde zwei Jahre alt. Der, von dem wir hofften, ihn noch jahrelang um uns zu haben. Es war illusorisch.

Als Bibo vor anderthalb Jahren ins Land der Tiere einzog, ließen sich Gedanken daran, dass auch er uns bald wieder verlassen würde, nicht verdrängen. Schon als Küken war er sterbenskrank, eigentlich dachten wir, er könnte nicht einmal „die mittlere Überlebensstatistik geretteter männlicher Puten“ halten. Bibo überlebte. Wurde erwachsen. Sogar ein frühes Hüftproblem besiegte er. Sein Körperbau taugte zu mehr als bei vielen Artgenossen. Bibo blieb schlank und groß, sackte nicht im Wachstum plötzlich durch das Eigengewicht nach unten. Und Bibo blieb, nachdem er schon über ein Jahr alt war, so sportlich, dass es ihm eine echte Freude war, auf das extra hoch angelegte Futterlager zu fliegen und die Futtereimer in hohem Bogen auszuleeren und sich mit dem erbeuteten Essen einen schönen Tag zu machen.

Bibo blieb nicht nur sportlich, sondern ein sanfter, lieber Typ. Längst nicht so protzig unterwegs wie der mit ihm zusammen gerettete Claudius, sondern eigentlich immer freundlich. Uns und gegenüber seinen Mitbewohnerinnen absolut liebenswert. Jemand, der keinen Streit suchte, sondern lieber kuschelte. Seine genetische Unersättlichkeit bisweilen eine nervraubende Angelegenheit, die dazu führte, dass sogar saubermachen mit ihm zusammen eine derart sportliche Herausforderung war, weil er sich auch über die Einstreu hermachen wollte. Es war empfehlenswert, Bibo nur mit ausgeklügelten Taktiken zu bedienen.

Und dann, ohne Vorwarnung. Bibo aß nicht. Es ging ihm schlecht, wir fanden keine Spur, wo das Problem liegen könnte. Er ließ uns keine Zeit für den Versuch herauszufinden, woran er litt. Als er morgens nicht aufstehen, nicht einmal eine Weintraube essen wollte und seine dunkelrote Gesichtsfarbe verriet, dass es ihm sehr schlecht ging, dachten wir noch nicht an Abschied, sondern an einen Tierarzttermin. Als wir ihn alleine ließen, legte er sich im Haus in ein Strohnest. 10 Minuten später fanden wir ihn dort, leuchtend himmelblau und rosa am Kopf, der Farbe, die Puten, die sich maximal wohlfühlen, haben. Bibo war gestorben.

Wir haben ihn beerdigt ohne nachzuforschen, welches seiner Organe versagte und seinen Tod verursachte. Mit anderthalb Jahren war er „biologisch uralt“ für einen als Mastputer gezüchteten Vogel und egal wie wir uns bei jedem seiner Art wünschen, doch mehr Lebenszeit herausschlagen zu können: Wir können es nicht. Wir können sie davor bewahren, misshandelte Ware zu sein, als Mastvögel zu leben, im Alter von wenigen Wochen geschlachtet zu werden. Bibo konnte ein freies, friedliches Leben führen, erwachsen werden, Freund sein.

Adieu, Bibo.

Abschied von Helene

Wir fanden sie unter den Bäumen. Eine Stunde zuvor war Helene dort noch mit den anderen unterwegs, im Laub nach leckeren Geheimnissen suchend, scharrend und pickend, glücklich und zufrieden, zwischendurch mit dem Hahn im Nachbargehege flirtend und Ente Heidi beim Baden im Teich beobachtend.

Vielleicht war sie so versunken in ihrem Tun, dass sie im Gegensatz zu den anderen, die ins Haus liefen und sich versteckten, die Gefahr, die von oben kam, gar nicht bemerkte. Es muss sehr schnell gegangen sein, der Angriff erfolgte im vermeintlichen Schutz der Bäume des Wäldchens im Hühnergehege. Dort fanden wir sie, kaum zu sehen im dunklen Laub. Ihr Körper mit zwei Bissverletzungen, die einem Greifvogelangriff zuzuordnen waren. Es gab keine Jagdspuren, es muss sehr schnell gegangen sein. Wir konnten nichts mehr für sie tun, außer sie zu beerdigen und uns zu fragen, ob wir ihren Tod hätten abwenden können.

Dafür hätte es nur eine Möglichkeit gegeben: Helene einzusperren, niemals wirklich Huhn sein zu lassen, Huhn, das mit den anderen herumzieht, scharrend und pickend, glücklich und zufrieden. Gefangenschaft und Frustration gab es in ihrem Leben genug, bevor sie ins Land der Tiere einzog. Sie lebte in „Bodenhaltung“, hatte nie Sonne, nie Wiese, hat niemals im Laub Geheimnisse suchen und finden können, lebte unter Hühnern, die sich gegenseitig attackierten, weil sie nie Huhn sein konnten.

Helene blieben 8 Monate des Huhn-Seins nach dem für sie geplanten Schlachttag, der ihr Rettungstag wurde.
Adieu, Helene.

Abschied von Oscar

Der bislang meist verarztete Patient im ganzen Land? Wahrscheinlich Oscar. Chronischer Schnupfen, der immer wieder behandelt werden musste, Pododermatitis aufgrund seines schweren „Mast“-Körperbaus, gegen die wir monatelang und tatsächlich erfolgreich angekämpft haben, regelmäßig mal ein Loch hier oder da, kassiert bei Streitigkeiten mit seinem Bruder Emil, mit dem er die Jahre bei uns zusammenlebte, kuschelte und kabbelte. Der größte Eiterabszess, den wir je an einem Kaninchen spülten, war selbstverständlich auch Oscars. Die meisten Spritzen mit Antibiotika? Oscar! Als ihn vor vielen Monaten dann noch in einer akuten Schnupfenphase eine Lähmung erwischte, die eines seiner Hinterbeine funktionslos machte, dachten wir: jetzt ist es wirklich vorbei.

War es nicht. Stattdessen tüftelten wir an einer Lösung, die verhinderte, dass er sich sein Bein aufschürfte beim Hinterherziehen. Mit Dauerfußverband war alles gut. Damit konnte Oscar wie ungelähmt mit den anderen herumlaufen und springen – und sich wie gewohnt mit Emil zanken, wenn den beiden danach war.

Alles war gut, sein Laufstil hatte sich so angepasst, dass kein Mensch die Lähmung überhaupt sah. Dann wieder Schnupfen. Und dieses Mal verschlimmerte er sich noch unter Medikamenten. Zwei Wochen Hoffnung, ihm auch dieses Mal wieder helfen zu können verschwanden in den letzten Tagen, weil sich sein Zustand dramatisch verschlechterte. Seine Lunge kapitulierte. Oscar starb beim Tierarzt.

Adieu, Oscar.